Claus Leggewie


Der Mythos des Neuanfangs - Gründungsetappen der Bundesrepublik Deutschland: 1949-1968-1989


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I. Gründung und Gewalt

1. Incertitudes Allemandes

Vor fünf Jahren kam der revolutionäre Prozeß, der zur Öffnung des Eisernen Vorhangs, zur Beseitigung der Mauer und zur Überwindung der europäischen Teilung führte, im staatsrechtlichen Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten zum Stehen. Aber seine Energien sind nur stillgestellt, nicht aufgezehrt. Am Horizont steht nun - wenn nicht die wirtschafts- und ethnonationalistische Selbstzerstörung Europas infolge abrupter "Schubumkehr"(Menasse 1995)- seine Wiedervereinigung, eine neue politische Ordnung. Diese wird kein bloßer Staatenbund, aber auch kein Bundesstaat mehr sein können, sondern etwas welthistorisch Neues sein müssen - Europa muß nichts weniger als: sich neu gründen. Nach dem Vorbild der deutschen Vereinigung kann sich dies nicht vollziehen: Das Gebiet der "abgewickelten" DDR, zunächst technisch als Beitrittsgebiet bezeichnet, dann poetisch-kurios Neufünfland genannt, heute im Verwaltungsjargon als "neue Länder" etikettiert, schlossen sich schlicht dem bestehenden Provisorium an, um es zu verewigen - ein merkwürdiger, unscheinbarer Gründungsakt, mit dem die Deutschen immer noch Schwierigkeiten haben.

Das beweist die symptomatische Unfähigkeit, ordentlich den Gründungstag zu feiern. Zwar ist der 3. Oktober, der Tag des Inkrafttretens des Einigungsvertrags, ohne viel Aufhebens zum Nationalfeiertag deklariert worden. Aber die Deutschen tun sich schwer damit. Jugendliche Totschläger haben gleich zur Premiere Unterkünfte von Asylbewerbern angezündet und Fremde angegriffen - Gewaltakte, die an Versuche "ethnischer Säuberung" andernorts heranreichten. In der Debatte um die Finanzierung der Pflegeversicherung wurde dann die komplette Streichung dieses Feiertags erwogen, um Arbeitnehmern und evangelischen Gläubigen ihre gewohnten Feiertage zu erhalten. Tagsüber arbeiten und abends feiern, schlugen die einen vor. Andere propagierten, in gewagter Abwandlung des Gregorianischen Kalenders, der 3. Oktober solle fortan immer sonntags liegen.1 Die Episode verrät, wie schwer sich Patriotismus in diesem Land tut. Die einen wollen endlich eine normale Nation sein, die anderen finden an der Nation normalerweise nichts feierliches. Es fällt der politischen Gemeinschaft von 80 Millionen Deutschen offensichtlich schwer, ihr "Wir" zu symbolisieren, also feierlich auf einen Tag, in einem Eigennamen, in einer Kapitale zusammenzuballen. Wir sind, um Christian Meier zu zitieren, "eine Nation, die keine sein will" (1990), nicht die "Eine Republik Deutschland", die Dieter Henrich vorschwebt (1990). Die notorische Gründungs-Unsicherheit hält nach dem Wegfall der Teilstaatsprovisorien an. Es hilft nicht: Die "alte Bundesrepublik" ist nicht mehr.2 Aber gibt es damit bereits die "neue Bundesrepublik", die dritte, oder wie sie manche nennen: die Berliner Republik? Zählweise und Ortsverschiebung würden signalisieren, daß in der Tat Neues angestrebt und eingeleitet worden ist und eine neuerliche "Selbstanerkennung" anstünde.

Die Frage berührt das Problem, wie politische Gemeinschaften kollektive Identität nicht nur definieren, sondern immer wieder neu be- und umschreiben, d.h. anerkennen, also im wahrsten Sinne des Wortes begründen. Nicht alltägliche Routine und systemfunktionale "Legitimation durch Verfahren" stiften offenbar solche Identität, sondern - so meine These - republikanische Gründungsakte, die sich im Zeitablauf periodisch erneuern und den gestifteten Zusammenhang bestätigen. Die Frage, die dann auftaucht, lautet: Kann und soll die Bundesrepublik neu gegründet werden?3

2. Gründung als Mythos, Mythos als Gründung

Ich werde diese Doppelfrage pointiert beantworten: Die Möglichkeit und Not-wendigkeit besteht, aber man darf Zweifel haben am Gelingen dieses Vorhabens. Doch zunächst ein paar Stichworte zum Begriff der Gründung und des Mythos - zwei Termini, die eng miteinander zusammenhängen. Auch und gerade der politische Mythos4 ist eine Erzählung, die gemeinschaftliche Identität stiftet und einer Wir-Gruppe über ihre sozialen Spaltungen und kulturellen Differenzen hinweg selbstverständlich-fraglose Geltung erlangt. Nach klassischer Auffassung ist der Mythos ein autoritatives Wort, welches das Gegebene bezeichnet oder, was ihn in die Nähe des Numinosen rückt, offenbart. Archaische Mythen betonen den Anschluß der Gegenwart an die Tradition, moderne Mythen basieren auf revolutionären Zäsuren, tatsächlichen oder imaginären Vertragsabschlüssen und Verfassungsgebungen. Soziologisch gesehen stiften Mythen das kollektive Bewußtsein und Gedächtnis großer Gruppen, darunter von Nationen, denen sie jenseits ihrer räumlichen Ausdehnung und territorialen Begrenzung ein inneres Band und zeitliche Kontinuität verleihen. Der politische Mythos beglaubigt, was im Gemeinwesen ist und sein soll, schafft also Glaubwürdigkeit in der ganzen Breite des Wortsinns von Legitimation. Mythen begründen, als Charta der sozialen Ordnung, Selbstverständnis und Selbstverständlichkeiten einer Gesellschaft. Dadurch haben Mythen Be-Gründungskraft, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.

Politische Mythen enthalten dabei immer Elemente von Wahrheit und Lüge, von Geschichtsschreibung und Prophetie, von Vergangenheit und Zukunft. Sie sind insofern wahr und falsch zugleich. Indem sie soziale und politische Wirklichkeiten begründen, sind sie wahr. Indem sie der Gemeinschaft eine Zukunft weisen, erfüllen sie sich selbst. Indem sie fälschen oder etwas verschweigen (und das tun alle Mythen), säen sie den Zweifel an ihrer Gültigkeit und damit die Keime der Dissidenz, den Gegen-Mythos. Diese "Konstruiertheit" gilt keineswegs nur für "Bananenrepubliken", die sich ihre Existenz mit fadenscheinigen Herleitungen erschummeln müssen, sondern auch für die klassischen Republiken des Westens in Amerika und Europa. Der Sturm auf die Bastille, an der so gut wie nichts wahr ist5, reichte dennoch für einen Nationalfeiertag, der seit zwei Jahrhunderten unverbrüchlich begangen wird. Und im "We, the People of the United States" fehlen zwar die Ureinwohner Amerikas, aber die Formel gab einer Nation von Einwanderern zwei Jahrhunderte Halt, vielleicht auch noch länger6. So schnöde also manche Gründungsmythen nach ihrer De(kon)struktion wirken mögen - etwas analoges hat die Bundesrepublik nicht aufzubieten, die alte nicht und die neue auch nicht.

Im Motiv der Gründung erweist sich die janusköpfige Zeitstruktur politischer Gemeinwesen. Archaische Mythen affirmierten das Alte, rückversichern die Gegenwart in der Ur- und Frühgeschichte des Gemeinwesens. Je weiter sie in eine Vor-Zeit zurückgreifen, desto stärker wirken sie. Mythen der Moderne folgen nicht mehr diesem zyklischem Zeit-Begriff - sie müssen sich ganz auf Hervorbringung des Neuen kaprizieren. Das wirft eine kolossale Schwierigkeit auf. Der politische Mythos kann seine abrupt-gewalttätige, den neuen Anfang setzende Natur nicht abwerfen, versucht dies aber durch Kanonisierung bzw. interne Autorisierung seitens berufener Erzähler vergessen zu machen. Geltung erreicht ein politischer Mythos durch seine Fort-Erzählung in der oralen Tradition der Gemeinschaft und durch intellektuelle Spezialisten. Er verstärkt seine Kraft durch die Bindung an Personen, seien es nun Stifterfiguren in einer (fernen) Vergangenheit oder charismatische Persönlichkeiten der Gegenwart, die als Gründerfiguren anerkannt werden und den Mythos in seiner ganzen Ambivalenz wahren.

Wenn ihnen das nicht gelingt, verlieren sie ihre Autorität. Der lateinische Begriff der auctoritas enthält beide Elemente: die anfängliche Autorenschaft und die von der Person des Stifters sich lösende Geltungskraft. So sind Mythos und Gründung miteinander verwandt. Der Mythos gründet eine Auffassung, die bleiben soll und zum Gemeingut werden, also bleiben kann. Erfinder, Inhaber und Hüter des Mythos sind in diesem Sinne Autoritäten: Urheber und anerkennungswürdige Personen. Die Erfindung eines Mythos ist somit ein Gründungsakt, der durch Weiter- und Forterzählung affirmiert und zugleich in Zweifel gezogen wird. In ihm sind zwei an sich widersprüchliche Elemente zusammengeführt: die revolutionäre Anfangssituation wird auf Dauer gesetzt. Der Mythos bewahrt den Moment seiner Geburt oder Erfindung, und muß doch zugleich den besonderen geschichtlichen Augenblick, die Situativität und Kontingenz seiner Entstehungsumstände, vergessen machen. Insofern schafft jede Gründung einen Mythos, und jeder Mythos ist Gründung.

3. Anfangenkönnen: Eine Idee des Politischen

Ein klassisches Beispiel für einen Gründungsmythos liefert Hector St. John de Crèvecour in seinen "Briefen eines amerikanischen Farmers " (1782), der aus der Alten Welt kommend Amerika als Modell sozialer Gleichheit feiert. Er schildert nicht nur die konkreten Verbesserungen, die die aus Europa stammenden Siedler jenseits des Atlantiks eingeführt haben, um mit Privilegien und Hierarchien zu brechen und soziale Gerechtigkeit walten zu lassen, sondern führt seinen Lesern eine regelrechte tabula rasa vor: Die Republik Amerika entsteht im leeren Raum, der nicht nur sozial schrankenlos und geographisch grenzenlos ist, sondern auch ohne Urbevölkerung und importierte Sklaven. Der Gründungsmythos des absoluten Neubeginns in einer Neuen Welt ist von Beginn an kompromittiert durch den Mord an den Indianern und die Ausbeutung der Sklaven, die unsichtbar bleiben, durch alle Raster der kulturellen Sehgewohnheiten fallen und in der amerikanischen Zivilreligion lange irrelevant geblieben sind. Erst im späten 20. Jahrhun-dert kommt diese unvollständige Kanonisierung in einer Weise zu Bewußtsein, daß an eine Umgründung der amerikanischen Republik zu denken ist. Die aktuellen Anerkennungskämpfe der Minderheiten zeugen davon, inklusive der verkrampften Versuche, "politisch korrekt" zu reden oder die Vereinigten Staaten von Amerika wieder auf eine christlich-europäische Essenz festzulegen.

Das Motiv des gottgewollten und vollständigen Neubeginns hat Hannah Arendt in ihrem Werk "On Revolution" (1963) säkularisiert und als Zentralaspekt der Philosophie des Politischen herausgestellt. In den Revolutionen Amerikas und des Kontinents war das "Bewußtsein eines absoluten Novums lebendig". Das war ein "weihnachtlicher" Grundgedanke der christlichen Zeitauffassung - mit der Geburt Christi als einmaligem, unwiederholbarem Ereignis im Mittelpunkt - im Unterschied zur zyklischen Zeitwahrnehmung der Antike, aber noch ein außer-weltliches Ereignis. Im 18. Jahrhundert setzt sich ein anderer Zeit- und Geschichtsbegriff durch, wonach sich auch "innerhalb der weltlichen Geschichte etwas ganz und gar Neues ereignet, daß eine neue Geschichte anhebt". Die Einführung neuer, zivilreligiöser Kalender dokumentiert diesen Sinneswandel. Das mit emphatischen Befreiungsvorstellungen verbundene Pathos des Neubeginns, der die homines novi nach vorne bringt und den Wechsel der Generationen vorantreibt, führte Hannah Arendt auf tieferliegende Schichten der menschlichen Existenz zurück: die Gebürtlichkeit (Natalität) des Menschen, eine existential-philosophische Idee, die Hannah Arendt schon in ihren frühen Werken themati-siert und bei Vergil und Augustinus entlehnt hat:

"Daß der Mensch für die logisch unlösbare Aufgabe, einen neuen Anfang zu setzen, gleichsam existentiell vorbestimmt ist, insofern er ja selbst einen Anfang darstellt. Insofern der Mensch in die Welt hineingeboren ist, in ihr als ein 'Neuer' durch Geburt erscheint, ist er mit der Fähigkeit des Beginnens begabt. Weil er ein Neuer ist, kann er etwas Neues anfangen" (1986:272).

Diese Kunst hat Arendt als Wesenszug des Menschen als politischem Lebewesen und damit als Eigenart des Politischen überhaupt verstanden, in dem Sinne, "daß Handeln im Sinne des Einen-Anfang-Setzens nur die Gabe eines Wesens sein kann, das selbst ein Anfang ist" (276).

Sie schließt damit an die aristotelische Unterscheidung der drei menschlichen Grundtätigkeiten an: Arbeiten als antipolitische Existenzsicherung, Herstellen als unpolitische Zweckmäßigkeit, und Handeln als eigentlich politische Tätigkeit.

"Und da Handeln ferner die politische Tätigkeit par excellence ist, könnte es wohl sein, daß Natalität für politisches Denken ein so entscheidendes, kategorienbildendes Faktum darstellt, wie Sterblichkeit seit eh und je im Abendland zumindest seit Plato der Tatbestand war, an dem metaphysisch-philosophisches Denken sich entzündet"(1992:16)

Bei Augustines hieß es: "(Initium) ergo ut esset, creatus est homo, ante quem nullus fuit" (damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen, vor dem es niemanden gab). Hannah Arendt säkularisiert diese Formel folgendermaßen:

"Wie jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen" (1992:166).

Die scheinbar religiöse Rück-Bindung an den Ursprung zielt in Wirklichkeit auf die vollständige Okkasionalität und Kontingenz der modernen menschlichen Exi-stenz:

"Es liegt in der Natur eines jeden Anfangs, daß er, von dem Gewesenen und Geschehenen her gesehen, schlechterdings unerwartet und unerrechenbar in die Welt bricht. Die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses ist allen Anfängen und Ursprüngen inhärent" (1992:166).

Neues zu können und in Freiheit zu handeln, ist für Hannah Arendt das Wesen des Politischen schlechthin, das sozusagen säkulare Wunder vollbringt, und es ist auch das Charakteristische einer "kreativen Demokratie" (John Dewey).

"Was den Menschen zu einem politischen Wesen macht, ist seine Fähigkeit zu handeln, sie befähigt ihn, sich mit seinesgleichen zusammenzutun, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen, sich Ziele zu setzen und Unternehmungen zuzuwenden, die ihm nie in den Sinn hätten kommen können, wäre ihm nicht diese Gabe zuteil geworden: etwas Neues zu beginnen. Philosophisch gesprochen ist Handeln die Antwort des Menschen auf das Geborenwerden als eine der Grundbedingungen seiner Existenz: da wir alle durch Geburt, als Neuankömmlinge und als Neu-Anfänge auf die Welt kommen, sind wir fähig, etwas Neues zu beginnen, ohne die Tatsache der Geburt wüßten wir nicht einmal, was das ist: etwas Neues, alle 'Aktion' wäre entweder bloßes Sichverhalten oder Bewahren" (1987:81)

An bloßer Anpassung und Bewahrung, an jeder Art von geschichtlichen oder moralischen Vor- und Letztbegründung, an denen der Soziologie und Sozialphilosophie immer viel gelegen hat, ist das politische Denken nicht interessiert. Denn es würde die Tatsache der menschlichen Pluralität verfehlen und damit das Politische, das auf dieser Vielseitigkeit beruht. Arendts begreift Politik radikal antideterministisch.

"Es steht uns frei, die Welt zu verändern und in ihr etwas Neues anzufangen. Ohne die geistige Freiheit, das Wirkliche zu akzeptieren oder zu verwerfen, ja oder nein zu sagen - nicht nur zu Aussagen oder Vorschlägen, um unsere Zustimmung oder Ablehnung zu bekunden, sondern zu Dingen, wie sie sich jenseits von Zustimmung oder Ablehnung unseren Sinnes- und Erkenntnisorganen darbieten-, ohne diese geistige Freiheit wäre Handeln unmöglich. Handeln aber ist das eigentliche Werk der Politik" (1987b:9)

Arendt führt anhand der Gründungsgeschichte der Amerikanischen Republik eine andere Idee des Fortschritts aus, die nicht auf Erzwingung der Gleichheit, son-dern auf Verwirklichung der Freiheit zielt - und sich damit in Widerspruch zum Mainstream der europäischen Linken setzt:

"Der Fortschrittsgedanke beantwortet die höchst unangenehme Frage, die sich jeder neuen Generation stellt: Und was machen wir nun? Auf dem untersten Niveau lautet die Antwort: Laßt uns, was wir haben, verbessern, erweitern, vergrößern, vervielfachen (statt einem Auto pro Familie zwei)... Auf dem erheblich weniger primitiven Niveau der Linken gilt es, die der Gegenwart jeweils inhärenten Widersprüche in die auf sie notwendigerweise folgenden Synthesen zu entwickeln. In beiden Fällen meint man, daß etwas ganz und gar Neues und Unvorhersehbares sich nicht ereignen kann, nichts, was nicht 'notwendigerweise' aus dem folgt, was wir kennen. Wie beruhigend, wenn man mit Hegel sagen kann: 'Es kommt nichts Anderes heraus, als was schon vorhanden war'"(1987:32).7

4. Gewalt statt Gründung

Hannah Arendt war sich dessen bewußt, daß das realexistierende Amerika ebensowenig wie die westlichen Demokratien in Europa dem Ideal des Neuen als eine Art säkulares Wunder entsprachen, und sie hätte sich sicherlich, genau wie für die Pariser Mai-Revolte, für das begeistert, was 1989 unvorhergesehenerweise doch an Wundern eingetreten ist. Für die Zeit nach 1989 scheint indes ihre Befürchtung zuzutreffen, daß, wo so wenig Gründung (und Gründungsvermehrung) ist, die Gewalt blüht und sich an ihre Stelle setzt.

Denn sicherlich ist auch eine ganz andere Lesart der Gründungsidee möglich: daß nämlich, wie es ein populäres Diktum besagt, der Krieg der Vater aller, auch der guten Dinge ist. Nicht Besiedlung, friedliche Übereinkunft, feierlicher Verfassungsvertrag und umsichtige Revision begründen demnach das Gemeinwesen, sondern ein brachialer Akt der Gewalt. Schon Tocqueville hat die Dichotomie von Kämpfern, die zerstören, und Gesetzgebern, die begründen, aufgestellt, und war besorgt, daß der Übergang vom agonalen zum legislativen Modell des Politischen scheitert oder steckenbleibt (1987:6). Postmoderne Denker haben sich auf andere Weise mit dem Ursprungsproblem politischer Gemeinschaften bzw. dem Akt der Gründung auseinandergesetzt. René Girard postuliert aus anthropologischer Sicht, daß jeder Gründungsakt notwendigerweise ein Akt der Gewalt sei (1992). Jede (archaische) Vergemeinschaftung beruhe auf der Darbringung eines Opfers, das kathartische Funktion hat. Das versöhnende Opfer steht am Ursprung der sozialen Strukturierung; und dermaßen radikale Gründungsgewalt hat die Eigenschaft, daß sie den Teufelskreis der Gewalt beendet und gleichzeitig einen neuen einleitet - Gewalt steht am Ursprung dessen, was zum Wertvollsten der Menschen gehört und was zu bewahren ihnen am meisten am Herzen liegt.

Ähnlich hat sich Jacques Derrida (1991) zu modernen Unabhängigkeitserklärungen und Verfassungsgebungen geäußert. Die Moderne beruht für ihn und andere postmoderne Theoretiker auf einem Akt der Willkür und der Gewalt - die gleich-machende kollektive Identität des Wir verschleiert eo ipso das ihm innewohnende Element der Differenz, das Nicht-Identische, das gewaltsam ausgeschlossen bleibt. Seyla Benhabib folgert daraus, daß "ein jeder Gründungsakt und ein jeder Akt der Konstituierung eines Gemeinwesens ... ein Moment ausschließender Gewalt in sich (birgt), das den Anderen als Anderen konstituiert, definiert und ausschließt", wie zum Beispiel schwarze Sklaven und indianische Ureinwohner, für die die freiheitstiftende Vereinbarung der weißen Siedler nichts anders als Zwangsunterwerfung bedeutete. Benhabib schließt deshalb, "daß es keinen Akt republikanischer Gründung gibt, dem nicht eine eigene Gewalt und Exklusion innewohnt" (1993:104 f.)

Diese Korrektur des republikanischen Idealismus muß freilich der Arendtschen Gründungsidee nicht widersprechen. Die amerikanischen Republik war ja nicht auf eine starre Tradition fixiert, sozusagen auf den Urknall (oder Sündenfall) der Gründung der Republik festgelegt, der folglich als absoluter Dreh- und Angelpunkt kollektiver Identität der politischen Gemeinschaft und als homogene, politisch-religiös fundierte Einheit der Nation gelten dürfte. Vielmehr stellte sich Gründung als einen permanenten Prozeß der Neu-Gründung vor, wie es für eine "Nation von Einwandern" (Elschenbroich 1986) ja auch gar nicht anders denkbar ist, die den Anspruch erhob, Menschen verschiedenster Herkunft, Glaubensüberzeugungen und Temperamente zusammenzuschweißen. Gründung ist damit ein über Generationen hinweg kontinuierlich fortlaufender Prozeß. Zur Kombination des Gründungsmotivs mit der Generationskategorie war ihr ein Gedanke Thomas Jeffersons hilfreich. Der amerikanische founding father war der Überzeugung, daß man die Republik jede Generation neu, also etwa alle zwanzig Jahre, zur Disposition stellen müsse, damit die Neuankömmlinge, die Nachbegorenen ebenso wie die Neueinwanderer, sich ihr eigenes Bild vom Gemeinwesen machen und es auf ihre Weise wiedergründen können. Jede neue Generation, meinte er, habe das Recht, selbst die Staatsform zu wählen, von der sie sich die beste Beförderung ihres Glücks verspreche. Arendt kommentiert diese ihr etwas phantastisch vorkommende Idee:

"Worum es ihm eigentlich ging, war keine wirkliche Veränderung der Staatsform und auch keine verfassungsmäßig festgelegte Bestimmung, die Konstitution 'mit periodischen Revisionen von Generation zu Generation bis zum Ende der Zeiten' zu tradieren, sondern Mittel und Wege zu finden, durch die jede Generation ihre Repräsentanten auf einem Konvent versammeln könne, um auf diese Weise den Meinungen des gesamten Volkes immer wieder die Möglichkeit zu verschaffen, 'sich auf faire, gründliche und friedfertige Weise auszudrücken, sie zur Diskussion zu stellen und durch den Gemeinsinn der Gesellschaft entscheiden zu lassen'. Wie unbeholfen und mißverständlich Jefferson sich gelegentlich ausgedrückt haben mag, was er im Sinne hatte, ist klar: Der Gesamtprozeß des revolutionären Handelns sollte wiederholt werden können, und je nachdem wie er sich dieses Handeln vorstellte und die Akzente verteilte, wollte er vor Errichtung der Republik den Befreiungsprozeß in all seiner Gewaltätigkeit und später den Gründungsprozeß wiederholt sehen" (1986:301)

Man kann sich der Suggestion dieser Relektüre Jeffersons durch Hannah Arendt kaum entziehen und muß nun die Frage aufwerfen, wie sich dieses auf dauernde Erneuerung bezogene Gründungsparadigma für die Generationsgenealogie der Bundesrepublik Deutschland fruchtbar machen läßt - für eine Gesellschaft also, die 1949 wie 1989 den Neuanfang unter das Motto der Abwehr totalitärer (und in diesem Sinne: revolutionärer) Herausforderungen stellte. Daraus ergibt sich auch das hier gewählte Periodisierungsschema, das die politischen Daten 1949, 1968 und 1989 in den Mittelpunkt rückt.

5. Etappen der Gründung

Auch die Geschichte der Bundesrepublik kann man als Kette von Gründungsakten auffassen. In zahlreichen Selbstverständnisdebatten - z.B. in Reden von Politikern , Intellektuellen und Meinungsführern zur Lage der Nation - ist versucht worden, diesen permanenten Gründungsprozeß zu reflektieren, wobei bis zur 40-Jahr-Feier der Bundesrepublik die Zufriedenheit mit der Dynamik der Entwicklung und der Stabilität des Gemeinwesens eher stieg und sich der funda-mentale Dissens immer stärker marginalisierte und verflüchtigte. In fünfundvierzig Jahren Bundesrepublik scheinen mir unter dem Gesichtspunkt der Gründung drei Daten herauszufallen, von denen sich zwei als Periodisierungs-Marken aufdrängen: erstens das Geburtsjahr der Zweiten Republik 1949 mit der Verkündung des Grundgesetzes, der Wahl des ersten Bundestages und der Entstehung der allermeisten Institutionen des demokratisch-föderativen westdeutschen Staates, sekundiert und konterkariert durch die ganz anders gelagerte, auch nicht durch freie Zustimmung legitimierte Staatsgründung in der DDR, zweitens die Vereinigung von 1989/90, die den ursprünglichen Gründungsakt in vieler Hinsicht mimetisch nachbildete, ihn wiederum nicht durch plebiszitäre Zustimmung untermauerte oder durch einschneidende Verfassungsänderung in seiner Substanz veränderte.

Die beiden Eckdaten 1949 und 1989 kann man ohne Zögern als Gründung und Neugründung kennzeichnen, wobei sich als Adjektive verordnete Gründung und verfehlte Neugründung anbieten. Das erste Beiwort deutet, ohne jeden denunziatorischen Beiklang, den Souveränitätsvorbehalt der Bundesrepublik durch die alliierten Mächte an, das zweite reflektiert die Kritik an der Arbeit der Verfassungskommission, die keineswegs nur aus Ostdeutschland, sondern auch aus allen politischen Lagern der "alten" Bundesrepublik" kommt, weil die Realisierung der Vereinigung in vielen Punkten unter den Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Zeit geblieben sei.

Das dritte Datum, das ich im Gründungsprozeß hervorheben möchte, ist sicherlich weit umstrittener: 1968. Diese Jahreszahl ist nicht auf einen markanten staatsrechtlichen oder verfassungsgebenden Vorgang bezogen, sondern bündelt als symbolisches Datum einen längerfristigen politisch-kulturellen Umbruch, der sich zugleich in drastischen, z.Tl. eruptiven Protestaktivitäten Bahn brach, die im Sinne ihrer Urheber erstmals und einmalig revolutionäre Umwälzungsansprüche an die zweite deutsche Republik richteten. Wie diese aufgenommen worden sind, gibt Anlaß, im Fall des mittleren Zäsurjahres von einer glücklich gescheiterten Umgründung zu sprechen.

Alle drei Daten der Periodisierung können mit Fug und Recht bestritten werden, wenn wirtschafts- und sozialhistorische, aber auch außenpolitische Zäsuren in Betracht kommen: Ökonomisch waren die Erhardsche Währungsreform 1948 und die Wirtschaftskrisen von 1966/7, 1973/4 und 1982 ff. ohne Zweifel bedeutsamer, sozialpolitisch müßte man die Vollendung der großen Reformen in den 50er Jahren nennen, und außenpolitisch waren gewiß die Jahre 1955 mit Erlangung der Teilsouveränität und der Abschluß der Ostverträge, auch das Scharnierjahr 1963 markantere Einschnitte als die genannten Daten. Doch unter dem Gesichtspunkt des Gründung scheinen mir die Jahresringe 49-68-89 relevanter zu sein, wie ich jetzt mit dem fortgesetzten Versuch, uns und anderen unser Land zu erklären 8, belegen möchte - ein Unterfangen, das bei aller selbstaufklärerischen Absicht selbst nah an die "Arbeit am Mythos" heranreicht.

Den Gründungsmythos kann man unter den folgenden Gesichtspunkten ordnen:

- erstens unter dem Gesichtspunkt der Legitimationserzählung, die unter einer Mehrheit der Bevölkerung Zustimmung zu den wesentlichen Institutionen schafft und - in den Begriffen der empirischen Politische-Kultur-Forschung - ein Klima der "Akzeptanz" und "Demokratiezufriedenheit" entstehen (oder eben vermissen) läßt;

- zweitens unter dem Aspekt der Nation bzw. der postnationalen Aufhängung der Bundesrepublik in weltgesellschaftlichen Interdependenzen und Bündnissen;

- drittens im Blick auf ihre charismatische Bindung an herausragende Symbolfiguren oder, im Bezug auf den Gründungsaspekt, moderne founding persons, oder, allgemeiner gesprochen, auf die Akteursebene;

- viertens in Hinsicht auf die Kehrseiten des Gründungsvorgangs, der jeweils ein non-dit, ein Ungesagtes, enthält und verbirgt und gewissermaßen die Lebenslüge der kollektiven Identität erkennen läßt.

Die Kraft eines Gründungs- oder Neugründungsmythos zeigt sich darin: Er soll krisenhafte Übergänge meistern, er soll sozialstrukturelle Verwerfungen überschreiten oder gar heilen, er soll ein Motor der Entwicklung sein, er soll die Geschichte vergessen machen, und, wie noch hinzuzufügen wäre, die durch unterschiedliche Lebens- und Geschichtserfahrung getrennten Generationen der Bevölkerung verbinden. Insofern sind nationale Mythen harmonisierter Widerstreit, und Gründungsmythen verbinden - auf geradezu einzigartige Weise - Bruch und Kontinuität.

II. Gründerjahre

Die "kalte" Gründungsgeschichte des Bundesrepublik möchte ich jetzt in drei Schritten nachvollziehen und deuten:

1. Verordnete Gründung: 1949

Wenn man die Gründung der Bundesrepublik als "verordnete" bezeichnet, soll dies nicht in nationalistischem Affekt gegen die "Umerziehung" geschehen. Es heißt lediglich nüchtern zu konstatieren, daß die Deutschen 1945 nicht aus eigener Kraft zur Restitution eines demokratischen Gemeinwesens fähig gewesen wären und daß von da an Entstehung und Ausformung beider deutscher Staaten außenpolitisch bestimmt oder "überdeterminiert" waren. Sie mögen vielleicht dem Willen mancher Deutscher entsprochen haben (es sind gute Existenzgründe und Zielvorstellungen für beide Teilstaaten vorgetragen worden), aber als Folge der totalen militärischen Niederlage, der terroritialen Zerstückelung und der praktisch-rechtlichen Beendigung des Deutschen Reiches konnte die doppelte Gründung nicht ihrem eigenen und freien Entschluß entspringen. Die Bundesrepublik stand unter einem Primat der Außenpolitik, auf die sie lange Zeit nur als Juniorpartner Einfluß nehmen konnte und die ihre politischen Akteure deshalb vorrangig als Deutschlandpolitik, als Versuch zur Lösung oder Stabilisierung der "deutschen Frage" betrieben.

Beide deutsche Staaten dienten vor allem der Sicherung der europäischen und globalen Nachkriegsordnung, und vor allem die Bundesrepublik war (und ist) bis in ihre Verfassung hinein ein einzigartig supranational aufgehängtes Gebilde. Auch die raison d'etre der DDR war nicht etwa der Aufbau eines sozialistischen Staatswesens, sondern die Sicherung der Ostgrenze gegenüber Polen, und sie diente zugleich als Vorfeld des sowjetischen Imperiums. Die Bundesrepublik verdankte ihre partielle Souveränität der weitreichenden Einbindung in die westlichen Bündnis- und Allianzsysteme - Europäische Gemeinschaften und NATO. Zu dieser ökonomisch-politisch-militärischen Westbindung kam die politisch-kulturelle, die jede Rückkehr auf einen abenteuerlichen deutschen Sonderweg verhindern sollte. Vor allem in den ersten Jahren ihrer Existenz fungierte die Bundesrepublik als eine Art antikommunistischer Frontstaat, freilich ohne eigenständige Armee und, nach dem Verbot der Kommunistischen Partei, die als Fünfte Kolonne einer äußeren, feindlichen Macht galt, mit ständig nachlassendem ideologischen Eifer.

Die Gründung der Bundesrepublik stand also ganz im Schatten der deutschen Teilung, wobei, von 1989 aus gesehen, strittig wird, ob die Adenauersche Politik der Westintegration diese verantwortlich herbeigeführt oder langfristig überwunden habe. Nicht zufällig ist der 17. Juni 1953, im Westen als emphatische Bekundung des Einheitswillens interpretiert, dort Nationalfeiertag geworden, nicht ein Verfassungstag oder ein anderes symbolisches Datum. Die Gründung der Bundesrepublik steht damit im Auftrag der Heilung der Teilung, doch diese Zukunftsbestimmung: Wiedervereinigung wurde immer unwahrscheinlicher und unglaubwürdiger - bis zu dem Zeitpunkt des Eintretens der alle Welt und auch die Deutschen "unerhörten Begebenheit" (Lepenies). Noch immer wird, am Beispiel der Westpolitik Adenauers wie der Ostpolitik Brandts, gestritten, ob sie als Beiträge dazu intendiert, konzipiert und operationalisiert waren - oder als Blockade und Antithese.9

Die "postnationale" Aufhängung der BR im bipolaren Weltsystem und ihre anti-kommunistische Destination bestärkte ein anderes Identitätsmerkmal der Bundesdeutschen, das in der Folge mit dem sog. Wirtschaftswunder bestimmend wurde: Die systemische Rivalität mit dem nach 1945 zunächst in ganz Deutschland und Europa durchaus attraktiven sozialistischen Wirtschaftsmodell animierte zur Herausbildung eines eigenartigen Wirtschaftstyps, der sozialen Marktwirtschaft, die in mancher Hinsicht programmatisch und faktisch durchaus einen "Dritten Weg" darstellt und dank ihres Erfolges das Selbstverständnis der Bundesrepublik als prosperierende Exportarbeitsgemeinschaft ohne politische Ambitionen prägte. Dieser Verzicht auf politisch-militärische Macht entsprach dem Selbstverständnis der überwiegenden Zahl der Nachkriegsdeutschen, bis in die Gegenwart hinein, die als Folge oder auch Buße für die Verfehlungen des Deutschen Reiches in der Vergangenheit betrachtet wurde.

Diese Bezugnahme auf "die" Vergangenheit, vor allem den Holocaust und die Anzettelung des Zweiten Weltkrieges, bildete ein drittes Ferment des ursprünglichen Gründungsmythos der Bundesrepublik, die sich als Nachfolgestaat des Dritten Reiches und ohne radikale Säuberung ihrer Führungseliten zugleich in scharfer moralisch-kultureller Distanz zum Nationalsozialismus positionierte, wobei diese Demarkierung immer Hand in Hand ging und in einem Atemzug genannt wurde mit der Absetzung vom sog. "roten Totalitarismus". Die Gründung der Bundesrepublik war damit ein Akt der geistigen Zerstörung, des intendierten Bruchs, eine "Phönixiade also", wie Niklas Luhmann sagt, und er fährt fort: "Aber nichts, was bleiben könnte. Auch nichts, was zu bewahren sich lohnte" (1990). Diesem Element gesuchter Diskontinuität wird oft entgegengehalten die vermeintlich "restaurative Tendenz" der Epoche, wie es bereits unmittelbar nach dem Krieg Walter Dirks (1950) formuliert und seither ein starker intellektueller und akademischer Vorbehalt tradiert hat. Gemeint ist damit die von den Westalliierten beförderte Tendenz zur Wiedererrichtung eines für die nationalsozialistische Diktatur mitverantwortlichen Kapitalismus, wiederum angeblich auf Kosten eines antikapitalistischen und gesamtdeutschen Wiederaufbaus. An diese Deutung der frühen Nachkriegszeit war auch die Sozialdemokratie bis in die Fünfziger Jahre zu glauben bereit. Gewiß sind die frühen antifaschistischen Experi-mente eines selbstverwalteten Sozialismus abgebrochen worden, übrigens vor allem in der SBZ, und gewiß war der ab 1948 eingeschlagene Weg der sozialen Marktwirtschaft nicht alternativlos oder auch, wenn man sich die Folgen und Kosten von fast vierzig Jahren extraordinären Wachstums ansieht, einer Alternative oder Korrektur nicht bedürftig. Aber die Attraktion und Machbarkeit des damals vorgeschlagenen staatswirtschaftlichen Dritten Weges wird nachträglich überschätzt.

Mit Restauration ließe sich eher eine soziokulturelle Revision bezeichnen, die sich in der Familienpolitik durchgesetzt und die in der Tat dazu geführt hatte, daß die weibliche Beschäftigungsquote in der Bundesrepublik bis zuletzt im internationalen Vergleich relativ niedrig lag. Das für die frühe Bundesrepublik prägende und lange vorhaltende Familienmodell war getragen von der Sehnsucht, den eklatanten "Zivilisationsbruch" zu kitten, den der millionenfache Mord an den Juden und die Verbrechen der SS- und Wehrmachtsangehörigen im Osten als moralische Katastrophe in fast jede Familie hineingebracht hat. Es sollte zugleich auch Kontinuität herstellen gegenüber den perversen Modernisierungseffekten des Nationalsozialismus, der ja auch ein Programm zur Zerstörung der bürgerlichen Familie und Welt war.

Das Odium der verordneten Gründung: Restauration wird man also höchst differenziert betrachten müssen. Die demokratische Linke, die sich in selbstgewählter, pauschaler Distanz zu den "restaurativen" Zügen der Zweiten Republik positioniert hatte, mußte dafür den Preis der Isolation und der Verdrängung aus dem politischen Zentrum zahlen.10

Diese grundlegenden Züge der frühen Bundesrepublik - supranationale Westbindung, exportstarke soziale Marktwirtschaft, negative Identifizierung mit dem Nationalsozialismus - bildeten von den 50er Jahren an eine relativ stabile und demokratiefreundliche Identitätsgrundlage der Westdeutschen, die den Mythos der erfolgreichen Gründung (in einer Mischung von "Wir sind noch mal davongekommen" und "Wir sind wieder wer") aufnahmen und tradierten. Dabei halfen die charismatischen Symbolfiguren der frühen Jahre, die Gerontokraten Adenauer und Heuss und andere Persönlichkeiten, die sich weder mit dem Nationalsozialismus gemein gemacht hatten noch ins Exil gegangen waren. An sie vor allem knüpfte sich die Glaubensbereitschaft, und ihnen gelang es, die zunächst, vor allem in der ersten Legislaturperiode durchaus passive, demokratieskeptische und obrigkeitsstaatliche Stimmung im System der sog. Volksparteien zu neutralisieren und in wachsende Zustimmung und zögernde Partizipation umzumünzen - in einem Parteiensystem, aus dem bald alle fundamentale Dissidenz von rechts- und linksaußen eliminiert war und das in gewisser Hinsicht ebenfalls nach dem kon-sensorientierten Familienmodell funktionierte. Civic culture in einem anspruchsvollen Sinne war zunächst Fehlanzeige, wie frühe komparative Studien zeigen.11 Auch handfeste Ressentiments gegen die Demokratie und ein zumeist latenter Antisemitismus konnten sich in diesem Klima halten.

Faßt man diesen ersten Akt des Gründungsprozesses unter den genannten Leitkriterien zusammen, so beruhte die Inauguration der Bundesrepublik auf einer geliehenen, erst allmählich verinnerlichten Legitimation, wies die kollektive Identität eine post-nationale Rahmung auf, beruhte sie auf der Autorität von (in mancher Hinsicht der rudimentären Zivilgesellschaft entrückten) charismatischen Akteure und setzte sie das öffentliche "Beschweigen" der NS-Vergangenheit voraus, womit die Integration einer der Demokratie abgeneigten oder entfremdeten Bürgerschaft in das neue Staatswesen gewährleistet werden sollte (und auch wurde). Die Krise des Übergangs von der totalitären Diktatur in eine liberale Demokratie westlichen Typs wurde damit (sozialpsychologisch kostenreich!) gemeistert, die sozialstrukturelle Homogenisierung der alten deutschen Kassengesellschaft konnte halbwegs reibungslos gelingen, die soziale und vor allem ökonomische Modernisierung verlief im Sinne eines Gründungsbooms überaus dynamisch und der Generationswechsel von den gescheiterten Eliten des Deutschen Reiches zu den unauffälligen Akteuren der "Flakhelfer-Generation" in den "Volksparteien" und Großorganisationen gelang. Die Phönixiade war - unter Strich - eine Erfolgsgeschichte.

2. Glücklich gescheiterte Umgründung: 1968

Diese Kehrseiten und ein neuerdings fälliger Generationswechsel ließen den primären Gründungsmythos der Bundesrepublik jedoch rasch dahinwelken, als sich Mitte der 60er Jahre das außenpolitische Koordinatensystem veränderte, die Wirtschaft in ungeahnte Rezessionsturbulenzen und Branchenkrisen geriet und sich, als Folge der unterdessen verbreiteten Konsumstandards und des erreichten Lebensniveaus, ein lebensweltlicher Stilwandel einstellte, den man zu Recht als Revolution wahrnehmen konnte. Der kulturelle Umbruch erfaßte zwar fast alle westlichen Industriegesellschaften, aber in der Bundesrepublik hatte er besondere Erscheinungsformen und Auswirkungen. Es verbreitete sich, wie es wieder Luhmann ironisch ausgedrückt hat, die "Gewohnheit zu protestieren". Im Gefolge der Studentenbewegung entwickelte sich eine regelrechte Protestkultur, die den Usancen und "Errungenschaften" der mittlerweile reifer gewordenen Bundesrepublik äußerst skeptisch gegenüberstand. Daß aber auch Luhmann der Neigung zum Dagegensein "in einem Kontext funktionierender Demokratie auch einen Frühwarneffekt, vor allem im Bezug auf die Probleme der Ökologie und auf die Themen eines möglichen politischen Widerstandes" (sic!) zubilligt und sein wissenschaftlich-politischer Gegenspieler Habermas, auch er seinerzeit eine Zielscheibe radikalen Protestes, den Aktivisten um 1968 bescheinigt, sie hätten à la longue eine "Fundamentalliberalisierung" der Republik bewirkt, die weit in die Reihen der Unionsparteien hineingewirkt habe, deutet die ökumenische Aufnahme des 68er Mythos in den Gründungmythos der Bundesrepublik an (Leggewie 1988), die von den Ergebnissen der Lebensstil-Forschung bestätigt wird.

Die Akteure, die dies wohl als Beweis repressiver Toleranz charakterisiert hätten, wollten zwar etwas ganz anderes, nämlich: die sozialistische Revolution, was ihnen zum Teil bis heute die Verachtung des damaligen Establishments einbrachte. Aber grosso modo hat sich, jedenfalls bis zur vorletzten Gedenkfeier 1988, eine milde Lesart eingebürgert, wonach man die Ereignisse um '68 als glücklich gescheiterte Umgründung der Republik interpretieren kann. Denn im Zusammenhang mit der neuen, bereits unter der christlich-liberalen Koalition vorbereiteten Ostpolitik, auch mit dem durch den Generationswechsel herbeigeführten wirt-schaftlichen und kulturellen Schub und durch die von den sozialliberalen Bundes- und Landesregierungen betriebenen Inneren Reformen hatte die Studentenrevolte unintendiert, wie durch eine List der Geschichte, heilsame Wirkungen für die Stabilität und Dynamik der Zweiten Republik. Sie erlebte eine Art zweiten Frühling. Als paradoxe Folge der gestiegenen Protestbereitschaft und trotz einer zeitweiligen Wiederkehr der extremen Rechten und Linken stiegen generell Zustimmungsbereitschaft, Demokratiezufriedenheit und aktive Beteiligung, auch wenn sich diese nun aus den herkömmlichen intermediären Instanzen (Parteien, Verbände) in neue soziale Bewegungen, Bürgerinitiativen und Alternativparteien zu verlagern begann. Hatte die frühe Bundesrepublik einen Schub politisch-ökonomischer Verwestlichung erfahren, erlebte sie jetzt eine Amerikanisierung ihrer politischen Kultur und Lebensstile - und dies ausgerechnet vor dem Hintergrund eines zum Teil extrem aggressiven Antiamerikanismus. So hat letztlich der "heiße" Umgründungsversuch von 1968, der u.a. den Brandt'schen Slogan "Mehr Demokratie wagen" provozierte und nachhaltige Änderungen (in der Familien-, Rechts- und Bildungspolitik) nach sich zog, den "kalten" Gründungsmythos der Bundesrepublik bestätigt.

Unter dem Gesichtspunkt der Legitimation trat nun die Aktualisierung der Vorgeschichte der Bundesrepublik in den Vordergrund, d.h. die mit der Entfernung vom Ereignis intensiver werdende "Vergangenheitsbewältigung", die, nur scheinbar paradox - eine Affirmation und Selbstanerkennung der realexistierenden Bundesrepublik nach sich zog und zu international vergleichsweise hohen Beteiligungsansprüchen führte. Die post-nationale Aufhängung der Zweiten Republik wurde verstärkt, ebenso zivilgesellschaftliche Akteursebene. Die Kehrseite dieses Prozesses war der gewissermaßen exterritoriale Gestus der Protagonisten, die sich eher um Meinungsführerschaft denn um Regierungskompetenz bemühten und ihr starkes Mißtrauen gegenüber der Zweiten Republik nur sehr langsam abbauen wollten.

Anhand der Umwälzung von 1968 kann man jetzt das erwähnte Konzept Hannah Arendts aufgreifen, die übrigens trotz ihrer konservativen Neigungen mit den 68ern sympathisierte, sofern sie sich gewaltloser Mittel bedienten und von totalitären Ideologien fernhielten: der periodische, nach politischen Genera-tionen ausgelegte Neugründungspprozeß. Zwar läßt sich ein solches Verfahren logischerweise nicht vorschreiben oder inszenieren; man kann aber sehr wohl die negativen Folgen eines ausgebliebenen Generationswechsels bestimmen, die zu einer Entfremdung der nachrückenden Generationen führt und damit letztlich zur Erosion der inneren Voraussetzungen liberaler Demokratien. Die Aktivisten von 1967/8 wollten die Republik nicht neugründen, sondern abschaffen; in ihren Leitvorstellungen waren sie sogar noch traditioneller oder hedonistischer als die politische Kultur, die sie anfeindeten. Aber indem sie auf Distanz gingen, bewirkten sie im Endeffekt doch eine Erneuerung und Erweiterung der Demokratie im Ver-lauf der 70er Jahre. Die paradoxen Wirkungen der glücklich gescheiterten Umgründung sind erstaunlich: Die Thematisierung der Legitimationskrise verschaffte der Zweiten Republik ein höheres Maß an Legitimität. Die massive Konfrontation mit den alten Eliten und die Attraktion kollektivistisch-basisdemokratischer Ideale hinderte nicht das Auftauchen neuer charismatischer Figuren wie Willy Brandt zu Beginn der 70er Jahre, womit ein von der äußersten Linken und aus dem Exil kommender Politiker die Bundesrepublik verkörpern konnte, und trotz der zum Teil forciert betriebenen Politik der Zweistaatlichkeit schuf die Öffnung nach Osten a la longue auch die Voraussetzungen der späteren Vereinigung. So viel ungewollte Effekte und unbeabsichtigte Folgen politischen Handelns lassen freilich auch wieder neue Lebenslügen entstehen: Die 68er Generation verblieb trotz ihrer faktischen Annäherung an die Bundesrepublik zu ihr in ritualisierter Distanz, vor allem zum politischen System im engeren Sinne, was ihr nicht ganz zu Unrecht den Vorwurf der politischen Romantik und der Machtvergessenheit einbrachte.

3. Verpaßte Neugründung: 1989

Wenn man in politischen Generationen rechnen will (Fogt 19xx), wäre jetzt eine erneute Neugründung fällig und auch, angesichts des fundamentalen Wandels der Weltgesellschaft seit Mitte der 80er Jahre, überfällig. Die geopolitischen und ökonomischen Voraussetzungen der Bundesrepublik haben sich radikal gewandelt. Der in den 60er Jahren erreichte Primat der Innenpolitik wirkt provinziell und, angesichts der weltgesellschaftlichen Risikolagen, unzeitgemäß. Die wirtschaftliche und staatsrechtliche Vereinigung der beiden Staaten und die reale Existenz eines 80 Millionen Menschen umfassenden deutschen Nationalstaates haben dazu geführt, daß das identitätsstiftende Surrogat der ökonomischen Prosperität seine Wirkung verliert und eine Art Ostverschiebung der politisch-kulturellen Voraussetzungen der Bundesrepublik anstünde, wie sie auch von der Bürgerbewegung der DDR gefordert worden ist. Die Hauptstadtdebatte und die bleibende, sich modifizierende und bisweilen auch radikalisierende Fremdheit zwischen Ost- und Westdeutschen, ferner die fast arkan und gewollt ergebnislos betriebene Verfassungsreform 12 und die nicht zu leugnende Marginalisierung der Bevölkerung Neufünflands zeigen, daß dem nicht so ist: Wir sind immer noch eine Nation, die keine sein will. Zäh hält eine ganz große Koalition von Besitzstandswahrern an den Grundlagen der "alten Bundesrepublik" fest, die auch die neue sein und bleiben soll. Darin vereinen sich Privilegiensicherung, berechtigte Bedenken gegen eine politisch-kulturelle "Veröstlichung" mit der schieren Angst vor dem Neuen und der politischen Phantasielosigkeit angesichts dramatisch gewandelter Handlungsparameter.

Die Altbundesrepublikaner haben den Zeitenwechsel weitgehend als passive Beobachter erlebt und registriert, und wie die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Grundgesetzes 1989 belegen, sah man rundum wenig Anlaß zur Änderung, was sich ja auch in der programmatischen Schwäche der Opposition inklusive der als Protestpartei angetreten GRÜNEN zeigt. Von Bonn aus gesehen, bestand kein Grund zur Neugründung. Bewirkt haben den Wechsel - den Fall der Mauer, die rasche Währungsunion und die Vereinigung - die ostdeutschen Akteure, wenngleich auch sie im osteuropäischen Maßstab erst in zweiter Linie und als Nutz-nießer der Perestrojka und der Bürgerbewegungen in Polen, Ungarn und der CSFR. Sie haben rasch an Elan verloren und in der erweiterten Bundesrepublik keine Hebelwirkung entfalten, keinen Kreativitätsschub und keine Neugründung erzwingen können. Heute wird in Bonn (und Berlin) nicht einmal der symboli-sche Beitrag der Bürgerbewegung und der Runden Tische anerkannt, so daß ausgerechnet die PDS, die nur dürftig gewandelte Partei des Alten Regimes, die Früchte der Ostalgie und Enttäuschung ernten kann, während im Westen ein aggressiv xenophober Nationalpopulismus vom Vereinigungsfrust profitiert.

Zwar ist die Zustimmung zur "neuen" Bundesrepublik hoch und ihre Stabilität im Vergleich zu älteren Nationalstaaten mit einstmals gefestigter nationaler Identität höher, aber es werden doch deutliche Risse im Gebälk des Instiutionensystems und seiner tragenden sozial-moralischen Milieus sichtbar. Eine Erosion des etablierten, in Deutschland besonders stabilen Parteiensystems wie in anderen westlichen Demokratien ist nicht mehr ausgeschlossen. Zwar ist die nationale Einheit erreicht, aber die kulturelle Binnendistanz wächst und die Grundlagen des post-nationalen republikanischen Selbstverständnisses werden fragwürdig, damit auch die wünschenswerte Verwestlichung des Nationsverständnisses der nunmehr erweiterten und "normalisierten" Nation als ziviler Staatsbürgergemeinschaft. An charismatischen Persönlichkeiten mangelt es ebenso entschieden, dafür macht sich ein massenmedialer Populismus breit. Und Ost- wie Westdeutsche pflegen massenhaft die Lebenslüge, daß es wohl besser gewesen wäre, 1989 ff hätte gar nicht stattgefunden und man könnte weiter bequem in den Nischen leben.

In dieser Situation macht sich, nicht mehr bloß in lunatischen Zirkeln der extremen Rechten, die Illusion breit, man könnte die alte Bundesrepublik in radikaler Weise verabschieden und, anstelle des so gescholtenen "Westextremismus" der letzten 40 Jahre, eine deutsche Sonderrolle in der Mitte Europas wiederbeleben (Zitelmann u.a. 1993). Das Pathos des Neuen, die mobilisierenden Mythen, die für Furore sorgen, jedenfalls im politischen Feuilleton, kommen jetzt von rechts, auch wenn es die verbrauchte Rhetorik der Konservativen Revolution, die autoritäre oder völkische deutsche Staatsrechtslehre und uralte kulturpessimistische Überfremdungsängste sind, an die man anknüpft, und auch wenn die überkommene Rechts-Links-Schematik mit dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung längst ihren Sinn verloren hat. Der Gründungsmythos der Bundesrepublik wird ebenso revidiert wie die ökumenische Interpretation von 1968 in Zweifel gezogen. So wie die Gründung von 1949 eine schiefe Ebene der "Verdrängung" hatte und der Umgründungsversuch von 1968 mit dem Feuer der totalitären Revolution spielte, ist die Schattenseite der ausstehenden Neugründung von 1989 ein zeitgeschichtlicher Revisionismus und ein völkischer Nationalismus nach ostmitteleuropäischem Muster. Ach die Warnung Arendts: Wo so wenig Gründung ist, blüht die Gewalt, hat ihre Aktualität bekommen, selbst wenn man angesichts der Vergleichszahlen fremdenfeindlicher Gewalttaten in klassischen Demokratien, z.B. Großbritannien, nicht von einem deutschen Spezifikum sprechen kann, und die extreme Rechte in Frankreich oder Italien, ganz zu schweigen von osteuropäischen Demokratien, hoffähiger und politisch einflußreicher ist als hierzulande.

Nicht die Wiederherstellung des Deutschen Reiches, also die Regression der Bundesrepublik, kann die Leitfigur der ausstehenden Neugründung sein. Wenn heute dem Faktum der "inneren Einwanderung" Rechnung zu tragen ist, dann nicht allein der neuen Generation, die unsere immensen ökologischen Schäden und finanziellen Schulden zu tilgen haben wird (Leggewie 1995). Zu den Neuen zählen heute auch die "inneren Emigranten" der ehemaligen DDR, die gewissermaßen ausgewandert sind, ohne sich überhaupt von der Stelle bewegt zu haben, indem sie ihrer bisherigen Lebensumstände in einer radikalen Weise entfremdet und bloß ökonomisch kompensiert wurden. Zu den Neuen zählen neben den Neu-fünfländlern ferner die Millionen tatsächlicher Einwanderer, darunter ethnische Deutsche, die - aus Ost- und Südeuropa und der Dritten Welt kommend - in der Bundesrepublik auf dem Markt und sozialpolitisch recht gut, in ihrer kulturellen Eigenständigkeit leidlich, aber als Staatsbürger so gut wie gar nicht anerkannt und integriert sind. Was die Verfassungskommission zur technischen Anpassung des Grundgesetzes minimiert und die politische Klasse bewußt dilatorisch behandelt hat: die Neugründung der Republik im Sinne der Beglaubigung der Gescheh-nisse und der Bewältigung einer krisenhaften Situation, diese Aufgabe ist unter dem dreifachen Gesichtspunkt des Generationswechsels, der inneren Einheit und der endlichen Anerkennung eines jahrzehntelangen Einwanderungsprozesses von höchster Aktualität. Die Richtung, in die eine Reformulierung des Gründungskonsenses und eine neue Reformpolitik zielen müßten, sind damit auch benannt: Fortsetzung der Europäischen Konföderation, Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes, die Erweiterung des Wirtschafts- und Steuersystems durch ökologische Bilanzierung und die Übernahme internationaler Verantwortung der Bundesrepublik im Rahmen eines reformierten Systems der Vereinten Nationen. Veranschaulicht man sich die Dialektik von intentionalen und nicht-intentionalen Effekten bei den ersten Gründungsetappen und die außerordentliche Stabilität der neuen Bundesrepublik, so ist es keineswegs ausgeschlossen, daß trotz der aufgezeigten Mängel und Beschwerden auch die dritte Etappe "glücklich scheitert". Allerdings besteht auch die Gefahr, daß die "Berliner Republik" mangels innerer Legitimität, angesichts der Unsicherheit ihrer nationalen Konstruktion, im Blick auf die Marginalisierung wesentlicher Akteursgruppen und fortwuchernder Lebenslügen gerade an ihrer beeindruckenden Hyperstabilität Schaden nimmt.

III. Ausblick

Die einleitenden Bemerkungen zum Mythos der Gründung bzw. zur Gründung als Mythos und die nur grob skizzierten Elemente zu einer Geschichtsschreibung der Bundesrepublik als Abfolge von Gründungsakten möchte ich zu einer ebenso vorläufigen Konklusion bringen, wobei die Bedenken der postmodernen Autoren aufzugreifen und das Gründungsparadigma selbst zu relativieren ist.

Erstens: Durch die Ereignisse von 1989 erscheint die Geschichte der Bundesrepublik in einem neuen Licht. Sie ist weder materiell umzuschreiben noch können ihre normativ-institutionellen Voraussetzungen ernsthaft bestritten und als überholt deklariert werden. Besser, als in ganz unsouveräner Manier die "selbstbewußte Nation" (Schacht/Schwilk 1994) zu postulieren, wäre es, die Mehrheit der Deutschen könnte den nationalen Status ihres Gemeinwesens als Selbstverständlichkeit begreifen und zugleich, aus der Einsicht in die Begrenztheit der Funktionen moderner Territorialstaaten, einen grenzüberschreitenden Prozeß der Erweiterung und Fundierung der Europäischen Konföderation demokratisch tragen. Vom "Ende" her gedacht - der Wiedervereinigung, der Überwindung der SED-Diktatur von innen, der Überwindung der bipolaren, thermonuklear gesicherten Weltordnung - wird die Historiogrpahie der alten Bundesrepublik jedoch auch andere Akzente setzen. Beispielhaft hat den methodischen Weg der Rekapitula-tion eine Ausstellung im Museum für Deutsche Geschichte in Berlin über exem-plarische Lebensläufe in Ost- und Westdeutschland demonstriert. Nachdem die Besucher der Ausstellung Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Zeit gemeinsam durchschritten hatten, mußten sie sich danach an einem Scheideweg für einen Eingang entscheiden: In der Regel verabschiedeten sich "Ossis" und "Wessis" zum getrennten Durchgang durch ihre jeweilige Geschichte, wobei sie unterwegs gelegentlich über den Zaun Einblick in die Geschichte des anderen Teilstaates nehmen konnten. 1990 wurden die Parcours wieder zusammengeführt, und zwar in der Weise, daß die Besucher nunmehr den Verlauf der ihnen unbekannten Teilgeschichte zum Ursprung von 1949 zurückverfolgen konnten. Dieses Prinzip, von 1989 aus auf 1949 (und 1968) zu rekurrieren und dabei auch in politischen Generationen zu denken, könnte auf eine lebendige Geschichtsschreibung der neuen Bundesrepublik übertragen werden. Nicht Dogmatismus und Revision, aber Rekapitulation ist die Devise.

Zweitens: Die Fokussierung auf den Gründungs- oder Fundierungsmythos als Schlüssel zur Ergründung kollektiver Identitäts- und Nationsbildung ergibt eine Menge theoretischer Anhaltspunkte und empirischer Hinweise. Allerdings bleibt diese Fixierung auf den republikanischen "Urknall" einseitig, eine vergebliche Suche nach einem absoluten Dreh- und Angelpunkt kollektiver nationaler Identität. Auch in republikanischem Gewand, also unter den Bedingungen einer egalitären Staatsbürgernation, ist damit eine homogene, letztlich politisch-religiös fundierte Einheit postuliert, die dem erreichten Komplexitätsniveau und der multikulturellen Wirklichkeit der heutigen Weltgesellschaft nicht mehr angemessen erscheint. In ihr wird es vielmehr darauf ankommen, ein System egalitärer Rechte zu denken, zu installieren und zu garantieren, das zugleich Differenz oder Fremdheit als Konstitutionsmerkmal zuläßt und im pluralistischen Gefüge der Institutionen aufgreift. Der immanente Konservatismus des Gründungsparadigmas, der immer auf die Bekräftigung einer guten alten Ordnung hinausläuft, ist sonst ein Faktor, der die Entfaltung einer "kreativen Demokratie" eher behindert.

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