DANIEL COHN-BENDIT

Sie war keine `engagierte´ Philosophin... 1


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Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, seinen Text hier zu veröffentlichen.


Hannah Arendt ist nicht nur verkannt, sie ist auch die am meisten ignorierte politische Theoretikerin in der Bundesrepublik. Dies gilt vor allem für die deutsche Linke. Hannah Arendt verkörpert als politische Denkerin alles, was deutsche Linke nicht hören wollten und wollen. Deswegen wurde meine persönliche, familiäre Beziehung zu Hannah Arendt, auf die ich gleich zurückkommen werde, auch zu einem politischen Junktim. Denn alles, was ich an den deutschen Linken immer gehaßt habe, konnte ich argumentativ mit Hannah Arendt untermauern. Und so habe ich eine doppelte, und, wenn man so will, objektiv-subjektive Beziehung zu ihr.
Die Geschichte von Hannah Arendt und mir wurde eigentlich durch die Hannah-Arendt- Biographie von Elisabeth Young-Bruehl publik gemacht, in der jener Brief wieder auftauchte, den Hannah Arendt mir nach ‘68’ geschrieben hatte und der mir irgendwann verloren gegangen ist. Doch Hannah Arendt fertigte von ihren Briefen immer eine Kopie für die Bibliotheken an, auch das ist typisch Hannah Arendt, so daß eine Kopie des Briefes in Washington lag und schließlich in Young-Bruehls Biographie veröffentlicht wurde. Das war jener Brief, in dem sie mir mitteilte, daß meine Eltern und mein Vater sicher stolz auf mich gewesen wären und falls ich in Ungelegenheiten käme oder Geld bräuchte, sie und auch andere Freunde, wie die Klenborts, mir helfen würden.
Meine Eltern kannten Hannah Arendt seit 1936 aus der Emigrationszeit in Paris, wo sie alle einem intellektuellen Flüchtlingskreis angehörten, in dem sich auch jene versammelten, die Probleme mit der (nach New York bzw. Los Angeles übergesiedelten) Frankfurter Schule hatten - wie beispielsweise Walter Benjamin. Nach dem Einmarsch der Deutschen fanden sich meine Eltern und Hannah Arendt dann im südfranzösischen Montauban wieder. Diese Stadt im nicht-besetzten Teil Frankreichs hatte einen sozialistischen Bürgermeister, der in Opposition zur Vichy- Regierung stand, was vielen Emigranten die Zuflucht dorthin ermöglichte. Meine Eltern hatten ein Heim für Kinder, deren Eltern sich im Konzentrationslager befanden oder dort umgekommen waren. Hannah Arendt hielt sich ebenfalls eine Zeitlang in Montauban auf, bevor sie schließlich 1941 nach Amerika fliehen konnte. Auch von dort aus riß der Kontakt zu meinen Eltern nicht ab. Ein Teil der Gedanken in ihrem Buch ‘Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft’ entstand z.B. aus einem Brief an meinen Vater. Es war also eine persönliche Beziehung, die zugleich auch eine politische Komponente hatte.
Ich selbst lernte Hannah Arendt nach dem Tod meines Vaters kennen, als ich mich in Frankfurt aufhielt. Sie sollte 1958 die Laudatio für Karl Jaspers halten, der den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten hatte. Sie kam am Samstagmorgen vor dem Festakt zu uns nach Hause, um sich mit meiner Mutter zu treffen, so daß auch ich sie kennenlernte. Fünf Jahre später habe ich sie dann zufällig vor dem Frankfurter Gerichtsgebäude anläßlich des ersten Auschwitz- Prozesses (1963) wiedergesehen, als sie, begleitet von dem Journalisten Thilo Koch dort einen Tag zuhören wollte, während ich mit meiner Schulklasse, aus der Odenwald-Schule kommend, auch dort war.
Politisch wurde Hannah Arendt für mich zunehmend wichtiger, als ich mich langsam von der abstrakten revolutionären Theorie emanzipierte, also lange nach ‘68’. Diese Emanzipation stand im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung über Gewalt in der Studentenbewegung. Natürlich spielte auch die Auseinandersetzung über den Terrorismus und die damalige »Rote Armee Fraktion« (RAF) eine Rolle. Es kam hinzu, daß wir begannen, den orthodoxen Marxismus kritischer zu betrachten. Es war sicherlich kein Zufall, daß in dieser Situation die Schriften Hannah Arendts für mich immer mehr Bedeutung gewannen, da ich auch persönlich auf der Suche danach war, wie man den emanzipatorischen Anspruch eines auf radikale Veränderung der Gesellschaft zielenden Denkens retten konnte, ohne sich in die Position des enttäuschten Revolutionärs zu manövrieren.
In diesem Kontext war der Denkansatz von Hannah Arendt sehr wichtig. Natürlich habe ich ihr Denken für mich auch instrumentalisiert, indem ich daraus Versatzstücke von Theorien gemacht habe, die mir in der politischen Kontroverse gerade zupass kamen.
Dies gilt vor allem für die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus. Nach meiner Ankunft in Deutschland nach ‘68’ befand ich mich in einer gespenstischen Situation, was das Verstehen des real existierenden Kommunismus oder Sozialismus betraf. Meine politische Sozialisation war ja mindestens ebenso von der Konfrontation mit der französischen kommunistischen Partei geprägt, wie von der Kritik am Kapitalismus. Für mich war jede Haltung unverständlich, die leugnete, daß beide Formen von Herrschaft - Sozialismus oder Kapitalismus - so wie wir sie damals gesehen haben, gleich entsetzlich oder verwerflich waren. Und so kam ich dann nach Deutschland und mußte mir immer wieder anhören, daß man über die DDR einiges nicht sagen dürfe, weil das von den Rechten in gleicher Weise proklamiert werde. Dies war für mich schwer zu verstehen, doch spürte ich recht früh, daß das linke Lager in Deutschland, ob Sozialdemokratie, SDS oder was auch immer, ziemlich einheitlich die Position vertrat, die Grundstruktur der DDR sei gegenüber dem Kapitalismus der Bundesrepublik die eigentlich bessere.
Ich kann mich noch an Diskussionen mit Christian Semler erinnern, als wir zusammen das Buch über den ‘Linksradikalismus’ geschrieben haben und immer wieder auf dieses Problem stießen. Natürlich ist in diesem Zusammenhang der Gedanke von Hannah Arendt wichtig, den Totalitarismus als Totalitarismus verstehen zu wollen und den Nationalsozialismus nicht als - ich formuliere es mal provokativ - biologisches Problem der Deutschen zu sehen, die irgendwie mit dem an und für sich Bösen in Berührung gekommen sind, was man dann nur durch eine genetische Zusammensetzung der deutschen Identität erklären kann. Wenn man sich von dieser Vorstellung löst, wird einem deutlich, daß die Elemente und Formen totalitärer Herrschaft im Nationalsozialismus und im Stalinismus durchaus vergleichbar sind. Auch stellt sich die Frage, was Totalitarismus, was Demokratie und was Republik ist. Diese Frage wird in der Debatte, ob es überhaupt einen aufgeklärten Sozialismus geben kann, entscheidend. Diese Diskussion ist in Deutschland aufgrund der zugegebenerweise auch schwierigen Auseinandersetzung mit dem Faschismus/Nationalsozialismus nie richtig geführt worden.
So fand ich vor kurzem beim Lesen eines Gesprächs zwischen Adam Michnik und Jürgen Habermas in DIE ZEIT einen der dekuvrierendsten Dialoge, die ich je in meinem Leben gelesen habe. Dort sagte Adam Michnik mit einer gespielten Naivität sinngemäss zu Habermas: ‘Aber sie sind doch so ein brillanter Denker und und und ... Aber ich habe noch nie von ihnen über den Totalitarismus und Stalinismus etwas Richtiges gelesen.’ Und Habermas antwortete sinngemäss: ‘Wir kamen nicht auf die Idee, daß es wichtig war.’
Ich kann mich auch an einen Streit mit Habermas in Frankfurt erinnern. In Frankfurt gab es ja einen Habermas-Jüngerkreis und Habermas versuchte, eine politische Debatte zu inszenieren, indem er regelmäßig Leute mit unterschiedlichen politischen und theoretischen Konzepten einlud. Dort erschienen dann mehr oder weniger bekannte Köpfe der Frankfurter Öffentlichkeit, vor allem aber Habermas-Seminar- TeilnehmerInnen. Schließlich wurde auch ich einmal zum Thema der Studentenbewegung von ‘68’ eingeladen. Ich sagte im Grunde genommen nur zwei Dinge: Zum einen, daß Habermas seinerzeit, also ‘68’, durchaus Recht gehabt hätte. Was er mit seinem berühmten Satz gegen die Studentenbewegung, in der er faschistoide Züge glaubte erkennen zu können, gesagt hätte, wäre vielleicht in die falschen Worte gekleidet gewesen, doch hätte es durchaus einen Teil einer Problematik berührt. Habermas ist daraufhin wütend geworden, bezeichnete mich als einen Renegaten und seine damalige Einstellung als falsch.
Die Debatte wandte sich dann einer Frage zu, von der ich sagte, daß wir Revolutionäre sie nie richtig verstanden hätten, weil wir immer von einer positiven Anthropologie ausgegangen wären. Für uns war der Mensch gut, aber das System war böse. Irgendwann, wenn erst das System geändert wäre, so dachten wir, käme auch das Gute im Menschen hervor und alle Probleme wären gelöst. Das ist natürlich sehr vereinfacht formuliert, man könnte es komplexer erklären, aber darauf gründete letztlich unsere Denkweise. Ich wies darauf hin, wenn man Schriften von Denkern wie Hannah Arendt lese, könne man lernen, daß der Mensch weder gut noch böse sei, sondern es darum ginge, politische Systeme zu finden, die die Möglichkeit der Entwicklung der Menschen in die eine oder andere Richtung kontrollieren könnten. Letzteres wäre eben das Wesen der Republik und der Demokratie; dies hätten die zukunftsverheißenden Systeme, ob Sozialismus oder Faschismus/Nationalsozialismus, nie verstanden. Ihre Verfechter würden doch glauben, daß mit dem richtigen System auch der richtige Mensch an die richtige Stelle käme. An dieser Stelle verlor Habermas nochmals seine Beherrschung. Damals habe ich einmal mehr verstanden, wie schwierig es in der Bundesrepublik ist, einen Demokratiediskurs zu führen, der offen dafür ist, dieses Deutschland und diese Situation so zu akzeptieren, wie sie nun einmal ist.
Man kann nun auch in eine andere Richtung weiterdenken, in der Hannah Arendt ebenfalls eine wichtige Stütze sein könnte: nämlich in der Verarbeitung des Nationalsozialismus. In der Tat ist der Umgang damit in der Nachkriegszeit für viele Intellektuelle eines der größten Probleme gewesen. Und wenn man sich heute, 1994, die Endlostragödie vieler LehrerInnen in ihrer Vermittlungsfunktion gegenüber den SchülerInnen ansieht, so liegen ihre Mißerfolge nicht zuletzt darin, daß die emphatische Position des ausgestreckten Zeigefingers, in der die Geschichte als Mahnmal konstruiert wird, um dann den jungen Menschen eine moralisch richtige Auffassung aufzwingen zu können, nicht funktioniert hat und nicht funktionieren wird.
Denn letzten Endes war es immer das Problem, daß eine bestimmte Schicht in Deutschland Auschwitz als das endgültige negative Merkmal deutscher Identität interpretiert hat. Wenn man in der Pädagogik, in der Erziehung dann über den Nationalsozialismus spricht, so ist man quasi gezwungen, jungen Menschen beizubringen, daß sie ein schlechtes Gewissen haben sollen, weil sie als Deutsche geboren worden sind. Diese Erziehungsstrategie hat die perverse Auswirkung, daß deutsche Jugendliche über den Nationalsozialismus nichts mehr hören wollen.
Wenn ich mich recht erinnere, hat neulich Helmut Dubiel in der Frankfurter Rundschau am Ende seines Artikels ein sehr schönes Zitat von Hannah Arendt gebracht, wo sie über den Umgang mit dem Faschismus/Nationalsozialismus sinngemäss schreibt: Man muß den Leuten einfach sagen, wie es war.
Nicht im Sinne völliger Leidenschaftslosigkeit, weil man nie völlig leidenschaftslos sein kann. Jedoch muß man es beschreiben, um dann zu sehen, was sich daraus ergibt. Man muß abwarten können, was die Menschen mit dieser Kenntnis anfangen, ohne zugleich schon mitzuformulieren, was sie daraus machen müssen. Damit nimmt man ihnen nur die Möglichkeit, ihre eigene Auseinandersetzung zu führen. Das heißt auch: Gelassenheit entwickeln. Hannah Arendt hat ja immer, obwohl sie gekämpft hat, gegenüber Deutschland Gelassenheit an den Tag gelegt.
Ein meines Erachtens weiterer wichtiger Bereich des Arendtschen Diskurses - und das ermöglicht mir eine Ehrenrettung für etwas, was ich aus meiner revolutionären Geschichte immer noch für wichtig halte - betrifft das Nachdenken über Räte, über Rätedemokratie und über die Möglichkeit einer Transzendenz des gegenwärtigen Wirtschaftssystems. Hannah Arendt hat ja für die Räte als eine authentische Form politischen Handelns plädiert; sie war eine der ersten, die versucht hat, die Unterschiede der menschlichen Tätigkeiten zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln zu formulieren, womit sie im Grunde genommen ins Zentrum der ganzen postfordistischen Diskussion geraten war. Ich glaube, man muß eine Kritik an dieser kapitalistischen Gesellschaftsordnung formulieren können, ohne sich auf die Option eines zentralistischen Wirtschaftssystems festlegen zu müssen. In diesem Kontext sind auf der einen Seite die demokratischen Vorstellungen einer Politik über die Räte und das Projekt einer Demokratisierung der ganzen Arbeitswelt mit ihren Entscheidungspositionen wichtig. Das schließt natürlich die Konkurrenz auf dem Markt usw. nicht aus. Auf der anderen Seite ist es ebenso von Bedeutung, daß es die Möglichkeit gibt, zwischen Arbeit und Tätigkeit zu unterscheiden. Dann könnte man eine Gesellschaft denken, in der alle BürgerInnen tätig sind und eine Grundversorgung der Menschen gewährleistet ist und gleichzeitig die notwendige Arbeitszeit sich immer weiter reduziert. Die heutigen Beschäftigungstheorien würden unter diesen Voraussetzungen natürlich nicht mehr funktionieren.
Ich möchte noch auf eine andere Herausforderung im Denken Hannah Arendts eingehen, einem Denken, das selbst immer eine Herausforderung zum Denken war. Sie war keine Anhängerin der sogenannten »engagierten« Philosophie. Dagegen wandte sie sich immer sehr skeptisch bis kritisch. Insofern stellt sie die Antithese zu Herbert Marcuse dar. Man soll Toten nichts Böses nachsagen, aber trotzdem möchte ich feststellen: Herbert Marcuse war für mich nachträglich das Musterbeispiel eines opportunistischen Philosophen, wie dies auf eine andere Art und Weise auch Jean- Paul Sartre war. Um diese Kritik positiv zu wenden: Will man den engagierten Philosophen akzeptieren und respektieren, so nur, wenn man nicht vergißt, daß auch bedeutende Philosophen und Denker nicht davor geschützt sind, den größten Unsinn zu verbreiten. Sieht man sich die politischen Stellungnahmen von Sartre an, so kommt man zu dem Ergebnis, daß er zu 90 % Unrecht gehabt hat. Er war beseelt von einer bewundernswerten Freiheitsidee, die auch unsere ganze Generation geprägt hat. Wenn man jedoch genauer hinschaute, mußte man feststellen, daß sein emanzipiertes Leben mit Simone de Beauvoir nichts weiter war, als eine schrecklich kleinbürgerliche und verlogene Veranstaltung.
Natürlich war es legitim, daß sich Herbert Marcuse für die Studentenbewegung begeisterte, die den Beweis der Möglichkeit einer Opposition und einer öffentlichen Kritik an diesem System erbracht hatte. Aber ich frage mich, warum diese Begeisterung auch diesen Opportunismus nach sich ziehen mußte. Ich möchte dies an einem Beispiel aus dem Vietnam-Krieg erklären. Ich erinnere mich an einen Text von Herbert Marcuse, in dem er nachwies, daß in Nordvietnam die sozialistische Gesellschaft deswegen existieren würde, weil es dort beispielsweise Bänke gibt, auf denen nur zwei Personen sitzen können, weshalb sich dort das Ideal einer Liebesbeziehung eher realisieren könne als in anderen Gesellschaftsformen. Es gibt wahrlich atemberaubende Texte, auch von Sartre, der »bewiesen« hat, warum irgendein Richter oder Kapitalist zwangsläufig ein Kinderschänder sein müsse ....
Hingegen hat sich Hannah Arendt niemals zu einem solch »engagierten« Opportunismus hinreißen lassen. Obwohl sie mit der Studentenbewegung sympathisierte, was sie mir ja geschrieben hatte, war das für sie kein Grund, mit dem Denken aufzuhören oder sich im Zweifelsfall einfach für eine Sache zu entscheiden.
Als das Bussing in Little Rock anfing 2, schrieb sie den berühmten Artikel »Reflections on Little Rock«, in dem sie sich gegen diese Vorgehensweise der Bundesregierung aussprach, weil sie der Überzeugung war, daß man zwar das Gute wollen und dennoch etwas Schreckliches in Gang setzen würde. Für sie mußten die Kinder dort etwas austragen, was die Erwachsenen politisch nicht bewältigen konnten. Viele Liberale haben sie damals beschuldigt, nun auf der konservativen Seite zu stehen; die wenigsten haben sich die Mühe gemacht, auf die von ihr vorgebrachten Argumente zu hören. Dabei ist sie ja ganz entschieden dafür eingetreten, daß man die gesetzlichen Verbote gegen Schwarze aufheben muß, nur war es für sie ebenso unumstritten, daß man dabei nicht mit den Kindern anfangen dürfe. Das war in etwa ihre Position, die meiner Meinung nach auch richtig war und die zugleich den Stand einer freien Denkerin anzeigt, die Dinge anspricht, die für uns gar nicht so einfach zu akzeptieren sind.
Ein weiterer Grundgedanke Hannah Arendts in dieser Auseinandersetzung war der, daß Menschen das Recht haben, sich zusammenzuschließen und zu bestimmen, wie und in welcher Form sie zusammenleben wollen, was auch das Recht auf eine eigene Schule einschließt. (Ob sie damit in Bezug auf die öffentlichen Schulen richtig liegt, hängt sicherlich auch vom Schulsystem in Amerika ab, das will ich gern zugeben.) Diese Art der sozialen Selbstbestimmung war für Hannah Arendt legitim und notwendig, solange sie nicht durch gesetzliche Regelungen vorgegeben, erzwungen oder zementiert wurde. Das mögen wir vielleicht befremdlich finden, aber wenn wir an eine Wohngemeinschaft denken, so impliziert dies ja genau das Gleiche. Hier ist es für uns gar keine Frage, daß wir die Möglichkeit haben müssen zu bestimmen, wie wir Arbeit, Leben gestalten wollen, auch gegen den Willen derer, die nicht dazugehören.
Hannah Arendt war keine »engagierte« Philosophin oder Denkerin, sondern mischte sich als eine interessierte Zuschauerin und Kommentatorin ein, immer darauf bedacht, auch ein bißchen Distanz zu wahren, um das, was geschieht, auch beurteilen zu können. Ich will von mir nicht behaupten, daß dies die Maxime meines Handelns ist, obwohl ich in der Politik auch mal ganz gerne in diese Position (der situierten Unparteilichkeit) schlüpfe.
Lassen sie mich mit einem Beispiel aus der aktuellen Debatte über den Krieg in Bosnien schließen. Günther Verheugen, Bundesgeschäftsführer der SPD, schrieb unlängst einen Kommentar dazu. Ich möchte vorwegschicken, daß ein Joschka Fischer, eine Antje Vollmer, einige aus den Reihen der CDU und auch ein Klaus Kinkel ähnlich wie Verheugen argumentieren. Und ich möchte dann fragen, was Hannah Arendt zur Auseinandersetzung in Bosnien sagen würde? Was würde sie Herrn Verheugen entgegnen?
Also, Herr Verheugen sieht also, daß der furchtbare Krieg nicht zu Ende gehen will. Daher müsse man den kriegführenden Parteien, aber auch der ganzen Völkergemeinschaft nachdrücklich klarmachen müßte, daß der Krieg endlich aufhören müßte. Viele mögen an die Formel, daß nur eine politische Lösung möglich sei, wie es Kinkel immer wieder stereotyp wiederholt, nicht mehr glauben. Daher, so argumentiert Herr Verheugen weiter, wäre die Alternative ein internationaler Krieg gegen die serbischen Angreifer, vorausgesetzt, daß einige Staaten bereit wären, das Leben eigener Soldaten zu riskieren. Ein solcher Krieg würde die militärische Macht der Konfliktparteien erst einmal ausschalten und zu einem Frieden führen. Doch dann fragt Herrn Verheugen sophisticated: Für wie lange? Nach dem Krieg hätte man seiner Meinung nach dasselbe Problem wie vorher.
Mein erster Einwand lautet hier: Nach der Intervention der Antifaschismus-Alliierten in Deutschland hätte man genauso argumentieren können.
Nun, Herr Verheugen schreibt weiter, daß deshalb eine Lösung gefunden werden müßte, mit der die Menschen im ehemaligen Jugoslawien auf Dauer friedlich zusammenleben könnten. Wunderbar. Da tatsächlich niemand den Krieg gegen die Serben führen wolle, solle man aufhören, starke Sprüche zu machen. In Ordnung. Und dann kommt folgender Satz: Die Verantwortung für die notwendigen Maßnahmen in Bosnien würde allein bei der UNO liegen. »Klein Moritz« Verheugen verlangt also von der UNO, daß sie bereit und fähig sein müßte, ihre Schutzzonen auch wirklich zu schützen und endlich eine wirkungsvolle Blockade gegen die Angreifer durchzusetzen.
Wahrscheinlich hätte Hannah Arendt als erstes gesagt: So dumm kann doch kein Mensch sein! Entweder will man Krieg führen oder meint, leider Krieg führen zu müssen; dann kann man die Schutzzonen verteidigen. Oder man sagt umgekehrt, daß man die Schutzonen nicht verteidigen kann, weil man keinen Krieg führen will. Aber beides zugleich geht nicht.
Es gibt meiner Meinung nach nur noch diese beiden Positionen: entweder Krieg zu führen, d.h. ein Heer zu mobilisieren, das die Serben zurückdrängt und einen bosnischen Staat erhält. Das bedeutet dann aber auch, daß die Truppen dort 10, 20, 30 Jahre stationiert bleiben, bis sich das Ganze entkrampft hat, um dann irgendwann (das hätte 1945 in Bezug auf Deutschland auch niemand geglaubt) die Truppen ohne Probleme aus Bosnien wieder abziehen zu können. Oder man organisiert den Sieg der Serben, damit es möglichst schnell zu Ende geht. Wer behauptet, es gäbe noch einen anderen Weg, der lügt. Ich bin der festen Überzeugung, daß man Menschen finden muß, die sich ganz klar zu diesem Entweder - Oder bekennen.
Es gibt heutzutage kluge Intellektuelle, daher will ich mich nicht über den Niedergang der Intellektuellen in unserer Welt beklagen. Jedoch liegt Hannah Arendts Stärke darin begründet, daß sie im Gegensatz zu vielen heutigen Intellektuellen in einem Punkt zentral Recht behielt: und das war in ihrem Verständnis des Totalitarismus gleich welcher Prägung. Da hat sie einfach nicht gewackelt, keine Irrtümer begangen, weswegen ihrem ganzen Freiheitskonzept eine unheimliche Kraft innewohnt. Die Mehrheit der Intellektuellen meiner Generation hat da natürlich eine historisch befleckte Geschichte und Vergangenheit. Dies heißt nicht, daß ihre Argumente falsch wären, doch ist ihre Stellung in der Gesellschaft eine andere. Und wenn man Arendts Argumente und Positionen aufgreift, so muß es möglich sein, in Fragen, die ganz zentral unsere Gesellschaft betreffen, wie z.B. die Arbeitslosigkeit, auch die Kraft des Arendtschen Denkens miteinzubeziehen, um so einen neuen Diskursraum in unserer Gesellschaft zu gewinnen. Deshalb begrüße ich auch ausdrücklich die Stiftung eines Hannah Arendt-Preises.
Noch eine letzte Anmerkung zu der Frage, wer den Preis bekommen soll. Ich bitte darum, hier nicht mißverstanden zu werden. Ich fände es lobenswert, wenn die erste Person, die in Deutschland einen Hannah-Arendt-Preis erhält, eine Frau wäre. Eines der Probleme Hannah Arendts war es, daß ihr die theoretische Anerkennung, die ihr eigentlich zugestanden hätte, teilweise versagt geblieben ist, weil sie eine Frau war.
Alle Vorschläge, die ich gehört habe, sind legitim; jeder von ihnen wäre ein wunderbarer Preisträger. Ich hätte damit überhaupt keine Probleme. Da aber der Preis zum ersten Mal vergeben wird, so hat das auch eine historische Dimension und auch eine mehr oder minder große Symbolwirkung. Die eventuelle Suche nach einer Preisträgerin sollte daher nicht aus einer falsch verstandenen feministischen Position angegangen werden, sondern um Hannah Arendts Kampf um die Anerkennung in der Intellektuellenwelt als Frau gerecht zu werden. Dies ist mein Argument, und meine kleine Forderung an den Beirat besteht darin, darüber nachzudenken.
Danke.

  • 1 Vortrag von Daniel Cohn-Bendit auf der Hannah Arendt Tagung 1994 in Bremen Zurück
  • 2 In Little Rock kam es zu Unruhen, nachdem, aufgrund einer staatlichen Integrationsmaßnahme, schwarze SchülerInnen aus den Elendsquartieren mit Bussen in die Schulen der weißen Gegenden gefahren wurden. Der Aufsatz von Hannah Arendt wurde 1959 unter dem Titel 'Reflections on Little Rock' veröffentlicht. Eine deutsche Textfassung liegt vor in: Hannah Arendt: Zur Zeit. Politische Essays, hrsg. von M.L. Knott, Berlin 1986 Zurück

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