Dick Howard

Zur Politik der Urteilskraft 1

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Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, seinen Text hier zu veröffentlichen.


Man liest einen bestimmten Autor wieder und immer wieder, um seine eigenen Erfahrungen besser zu verstehen. Es mag an dieser banalen Wahrheit liegen, daß wir, die Mitglieder und Mitbetroffenen der internationalen Neuen Linken in den 60er Jahren im Westen wie im Osten nicht in der Lage waren, Hannah Arendts Beitrag zur Erneuerung des Politischen zu verstehen. Wir meinten, unsere Erfahrung sei eine neue Erfahrung und also sollte auch deren Theorie das Gegenteil der herkömmlichen politischen Denkweise sein. Daher wußten wir nichts mit Arendts Auseinandersetzungen mit den Klassikern anzufangen. Zum anderen wollten wir auch eine Neue Linke sein, eine, die das Vermächtnis der Vergangenheit für die Zukunft wieder zurückgewinnen kann. Wir glaubten, man könne die Irrtümer der Geschichte wieder rückgängig machen und alles könnte von vorne wieder anfangen. Dieser theoretische Volontarismus, der sich -wie zu zeigen sein wird - mit einem praktischen Volontarismus gut zusammenfügte, hat uns den Zugang zu Arendts Kritik des Totalitarismus versperrt. Für uns Amerikaner, sowie für die deutschen Linken erschien gerade dieses Buch Arendt an die Seite derjenigen zu bringen, die ein Experiment dämonisierten, das, obwohl es Irrtümern unterlegen war, dennoch die Grundlage einer besseren Gesellschaft geschaffen hatte, indem es das Privateigentum - das die Voraussetzung des Kapitalismus sei- abgeschafft hatte. Die vermeintliche Gleichsetzung des sowjetischen Experiments mit dem Nationalsozialismus schien uns das Kind mit dem Bade auszuschütten. Und als einige dennoch ihr nächstes Buch, "The Human Condition" lasen, meinten sie, daß Arendts Ausarbeitung des klassischen Unterschieds zwischen Arbeiten und Herstellen nur die "anti- marxistische" Polemik einer Autorin sei, die sich nolens volens der Logik des Kalten Krieges nicht entziehen konnte. Obwohl wir also von Arendt hätten lernen können, und obwohl einige versuchten, eine Vermittlung zwischen unserem Denken und dem ihren herzustellen, kam es nicht zu einer echten Debatte.
Daß dieser Dialog nicht stattgefunden hat, ist nicht nur eine historische Kuriosität. Die Gründe seines Ausbleibens zu verstehen, ist in doppelter Hinsicht von Bedeutung: es wird uns helfen, zunächst ein besseres Verständnis für die Grundlagen einer politischen Theorie zu entwickeln, was dann in einem zweiten Schritt dazu beitragen kann, die praktischen Erfordernisse der neuen, nach 1989 eingetretenen demokratischen Möglichkeiten zu begreifen, die nach einer politischen Übersetzung verlangen. Darauf werde ich am Ende dieses Beitrags noch einmal zurückkommen.
Die Ereignisse von 1989 versetzen uns in die Lage, den ausgebliebenen Dialog mit Hannah Arendt aufzunehmen. Dazu muß allerdings der Begriff des Politischen neu definiert werden. Wenn wir Arendt folgen, so wurde in den vergangenen zwei Jahrhunderten die Dimension des Politischen in den westlichen Gesellschaften mehr und mehr von ihren wirtschaftlichen Bedürfnissen überdeckt. Das Ökonomische hatte im Osten wie im Westen das Politische ersetzt. Die Kalküle einer instrumentellen Vernunft hatten die Urteilskraft an den Rand gedrängt. Die Notwendigkeiten des Marktes hatten den Raum der Freiheit, in dem erst Politik und Urteilskraft entstehen können, verdrängt. Handeln bedeutete in unseren Gesellschaften fast selbstverständlich das selbst-bezogene Ausführen vorgefaßter Vorstellungen und hatte von daher eine eher abstrakte und anti-politische Dimension. Den scheinbaren Zwängen eines anti-politischen Handelns kann man jedoch nur entgehen, wenn man sich auf die Eigenart des Politischen einläßt und eine neue Begrifflichkeit erarbeitet. Eine solche Begrifflichkeit läßt sich, wie Arendt andeutete (aber nicht mehr ausführen konnte), aus der Analyse der reflexiven Urteilskraft in Kant's "Kritik der Urteilskraft" entwickeln. Aber man muß zuvor die historischen Vermittlungen aufsuchen, um nicht einem Kurzschluß zu erliegen. Daher geht mein Weg "Von Marx zu Kant".2 Deswegen werde ich hier auch nicht versuchen, eine philologische Darstellung der Argumente von Hannah Arendt anzubieten. Ich versuche eher, die Erfahrungen, die ich - und die wir - in den Jahren nach 1968 erlebt haben, und die durch die Ereignisse von 1989 eine neue Beleuchtung bekommen haben, erneut aufzunehmen und in diesem Lichte die philosophischen sowie die politischen Grundlagen des Arendtschen Beitrages aufzuarbeiten. 3
Auf diesem Weg "von Marx zu Kant" versuche ich, den suizidären Sackgassen der westlichen "neuen Linken" dadurch zu entgehen, daß ich auf ihre richtige Einsicht aufbaue: das Politische muß neu bestimmt werden. Ob man an die Civil-Rights-Bewegung in den USA denkt, an die Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien in West-Berlin 1967, oder auch an die Vorstellungen der frühen Feministen, "das Private sei das Politische" - in jedem dieser Fälle ging der politisch-praktische Weg von dem Versuch aus, einen partikularen Fall so darzustellen, daß ihm eine universelle Bedeutung zukam. Die politische Handlungsweise der Neuen Linken führte dadurch eine Bewegung in die politische Sphäre ein, der man auch in der Kantschen Theorie der reflexiven Urteilskraft begegnet - den Weg vom Besonderen zum Allgemeinen. Die Art und Weise, wie Kant die Erfahrung des Schönen darstellt, läßt sich auch auf dieses neue Politikverständnis übertragen. Die Erfahrung des Schönen richtet sich nicht nach einer vor- gegebenen oder "wissenschaftlichen" Universalitiät, sie läßt sich nach Kant nie von allgemeinen oder universellen Prinzipien her ableiten und sie läßt sich von daher nicht als partikularer Fall unter allgemeine Regeln subsumieren. Die Erfahrung des Schönen erwächst vielmehr aus einer besonderen Erfahrung, deren Allgemeinheit sich erst in dem Maß herausbildet, wie sie zu einer gemeinsam geteilten Erfahrung werden kann. Diese Erfahrung kann uns helfen, die radikale Erfahrung der Demokratie zu verstehen. Diese Behauptung versteht sich nicht von selber; ich werde sie nur schrittweise verständlich machen können. Hier möchte ich nur unterstreichen, daß ein bloß "subjektives" oder "aesthetisches" Urteil in unserer modernen Welt stets in Frage gestellt wird: wir Modernen sind eher geneigt, einer "objektiven" Wissenschaft zu vertrauen - wie der "marxistischen", - sowie individuelle Subjektivität durch ein kollektives, vereintes und sogar "revolutionäres" Subjekt der Geschichte zu ersetzen. Gerade diese Versuchung, so meine ich, führte die neue Linke von Kant zu Marx ...und letztendlich zum Selbstmord. Diesen Irrtum muß man verstanden haben, will man ihn nicht nach 1989 noch einmal begehen.
Im "post-revolutionären" Kontext von 1989 will ich versuchen, die demokratischen Grundlagen der Neuen Linken, sowie deren philosophische Voraussetzungen zur Debatte zu stellen; ich gehe dabei den Weg, der von Marx zu Kant führt in entgegengesetzter Richtung noch einmal. Dabei werde ich die Notwendigkeit sowie die Struktur einer Politik der Urteilskraft darstellen. Ich beginne (1) mit der Frage der "Revolution" selbst. Die Französische Revolution illustriert beides, sowohl die Entstehung des modernen Individuums, wie auch die Möglichkeiten einer demokratischen Politik. Die politischen Irrtümer der Französichen Revolution zeigen indes zugleich die Schwierigkeiten einer Politik, die auf dem Willen gründet. Das führt mich (2) zu Marxens Vorstellung von Revolution als einer philosophischen und politischen Aufhebung der gegensätzlichen Politiken des Willens. Obwohl mich Marxens philosophische Ansatzpunkte einerseits überzeugen, erliegt er meines Erachtens andererseits den Verführungen, an denen die revolutionäre Politik des Willens nach 1789 scheiterte. Der revolutionäre Versuch, die Spannung zwischen den befreiten Individuen einerseits und einer befreiten Gesellschaft andererseits "aufzuheben", mündete in Aktionen, die die politische Dimension der Gesellschaft im Grunde zerstörte, weil es diese nur in dieser Spannung geben kann. Dabei begegnet uns zum ersten Mal die Gestalt des Anti-Politischen.4 Um die philosophischen Grundlagen der Anti-politik verstehen zu können, muß man (3) den Totalitarismus als ihre prägnanteste Form herausarbeiten. Nur wenn wir die immanente Logik des Totalitarismus als Versuch, die Antinomien der Demokratie aufzuheben, verstanden haben, sind wir auch bereit (4) die Politik des Willens durch eine Politik der Urteilskraft zu ersetzen. Unter einer Politik des Willens verstehe ich den Versuch, die erfahrenen Widersprüche und Spannungen innerhalb einer Gesellschaft entweder konstitutiv in ein Modell von Einheit aufzuheben oder nur den einen der beiden Pole in Betracht zu ziehen. Eine solche Politik ist nicht fähig, die Verantwortlichkeit, die erst eine soziale Solidarität möglich macht, zu erklären. Statt dessen subsumiert sie den besonderen Fall unter eine vorgegebene Allgemeinheit. Die Politik der Urteilskraft versucht im Gegenteil, die Allgemeinheit aus dem Besonderen herauszuarbeiten, ohne dabei dem Besonderen seine Bedeutung abzusprechen. Auf dieser Basis möchte ich schließlich (5) einige aktuelle Fragen aufgreifen, um zumindest anzudeuten, wohin diese Vorstellung des Politischen führt. Sie führt mich zur Wiederentdeckung jenes Aufbruchgeistes, der die neue Linke seinerzeit, in den 60er Jahren, begleitet hat.

I. DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION: DIE ZWEI WILLEN UND DIE GRUNDLEGUNG DER DEMOKRATIE

Das Revolutionsjahr 1789 hat zwei Kräfte freigesetzt: den Tiers Etat, jenes "Nichts, das Alles sein kann" und der mit dem "Volk" gleichgesetzt wurde, dessen Willen man als volonté générale deutete. Das souveräne Volk wurde demnach als "volonté constituante" verstanden, vor deren Allgemeinheit jede Besonderheit als nicht legitim galt. Als in der Nacht vom 4ten August 1789 die feudale Ordnung abgeschafft wurde, erschien jedoch ein zweiter Wille, dessen Unantastbarkeit in der Menschenrechtserklärung niedergelegt wurde. Von Anfang an gab es zwischen diese beiden Willen ein Spannungsverhältnis. Die Verfasser der Menschenrechtserklärung bestanden in der Präambel darauf, die Rechte des Individuums seien "natürliche Rechte, unveräusserlich und heilig". Im ersten Absatz erklärten sie, "die Menschen sind frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es"; im zweiten Absatz wurde hinzufügt, daß "das Ziel jeder politischen Einrichtung die Bewahrung der natürlichen und unbeschränkten Menschenrechte sei". Ja, die Begründer der Menschenrechte gingen soweit, "die Unkenntnis, das Vergessen oder die Verachtung der Menschenrechte" für "die einzige Ursache des öffentlichen Unglücks und der Korruption der Regierung" zu erklären. Leider versuchte, wie wir wissen, die "Assemblée constituante" und ihre Nachfolger, zu verwirklichen, was sie für den "volonté générale" hielten - und sei es auf Kosten der Rechte des Individuums, die doch gerade die Voraussetzung für das Bestehen der Assemblée constituante waren.
Die Spannung dieser zwei Willen wurde weder vom "Thermidor", noch von den Siegeszügen der "Grande Nation" oder gar von der Entstehung des Empires aufgehoben. Stattdessen dauerte die Spannung an und hielt sich auch in der Zeit der Restauration durch, als die "bürgerliche" Monarchie der Orléans nach der Revolution von 1830 an die Macht gekommen war. Die Radikalisierung der Revolution durch die Ereignisse vom Juni 1848, und deren Niederlage, stellen gewissermaßen eine Verdichtung jener Dilemmata dar, die schon in der Zeit zwischen 1789 und 1793 die politische Bühne beherrscht hatten. Keiner der "Willen" war in der Lage, den Anderen endgültig zu besiegen - und das neue, von einem neuen Bonaparte 1851 gegründete Empire war ebensowenig in der Lage, die Spannung aufzuheben. Die demütigende Niederlage im Krieg von 1870 brachte die Spannung erneut auf einer Höhepunkt, als die Pariser Kommune der besiegten Nation mit der Forderung nach Egalität entgegentrat. Die Errichtung einer dritten Republik schien zunächst einen Frieden zu ermöglichen, der jedoch gleichfalls von gelegentlichen krisenhaften Ausbrüchen dieser Spannung unterbrochen wurde, z.B. durch die "Affären", die mit den Namen von Boulanger oder Dreyfus verknüpft sind. Die Philosophen konnten ebensowenig wie die Politiker dieses Spannungsverhältnis verstehen. Benjamin Constant und die ihm folgende "liberale" Tradition versuchten, diese Spannung dadurch zu überwinden, daß sie zwei - theoretisch und historisch - getrennnte Sphären konzeptualisierten, die nichts mehr miteinander zu tun hatten: die Sphäre der "klassischen" Freiheit, die ein tugendhaftes und auf das Gemeinwohl hin orientiertes Leben ermöglichte und die Sphäre der "modernen" Freiheit, dessen Grundlage das freie und private Interesse des Individuums sei. Von Guizot in der Praxis ausgeführt, übersetzte sich dieser politische Liberalismus in einem ökonomischen Liberalismus. Guizot's berühmtes Wort - "Enrichissez-vous!" - überließ das Gemeinwohl der unsichtbaren Hand des Marktes. Diesen beiden Gestalten des Liberalismus standen Konservative sowie Sozialisten gegenüber, die sich beide, obwohl sie entgegengesetzte Ziele verfolgten, auf den Willen und das Wohl des Ganzen beriefen und die "Anarchie" und den "Egoismus" einer nur auf die Rechte des Individuums gegründeten Gesellschaft verurteilten. Der Erfahrung eines instabilen, krisenhaften Jahrhunderts kann man ablesen, daß in allen diesen Fällen die vorgeschlagene Lösung auf einer Anti-Politik beruhte: sie alle versuchten, den Gegensatz oder die Spannung der beiden Willen entweder in einem Einheitsmodell aufzuheben, oder nur den einen Pol hervorzuheben, ohne dabei zu bemerken, daß gerade das Verhältnis der beiden Pole die Bedingung der Möglichkeit ihrer eigenen "politischen" Tätigkeit darstellt. 5
Weder die Linke noch die Rechte haben die radikalen politischen Effekte, die aus der geschichtlichen Zäsur von 1789 hervorgingen, angemessen verstanden. Das Ancien Régime war eine Ordnung, ein Kosmos, ein organisches und organisiertes Ganzes, innerhalb dessen jeder Mensch und jeder Körper einen Platz und eine Rolle hatte. Das befreite Individuum stand einer neuen Welt gegenüber: es war frei, jeder mußte seinen Platz zwischen anderen, gleich freien Individuen finden. Das daraus entstehende Dilemma war schon den Philosophen des Gesellschafts-Vertrages seit Hobbes bekannt: die Freiheit des Individuums muß bewahrt werden, während zur gleichen Zeit die sichernde Ordnung einer Gesellschaft (bzw. Gemeinschaft) hergestellt werden muß. Aus welchen Gründen können Individuen ihre Unterordnung unter einen gemeinsamen Willen als legitim annehmen? Was treibt das von Natur aus freie Individuum dazu, sich in eine politische Ordnung einzufügen? Wird es dazu aus Furcht vor den Anderen getrieben, oder versucht es lediglich, sein Leben abzusichern, oder gar nur das private Eigentum zu schützen? Oder sollte man vielleicht den nach 1789 auftretenden Individualismus gar als Entartung (oder als Illusion) verstehen - etwa so, daß der Mensch zuallererst und von Natur aus ein Gemeinschaftswesen sei? Die Debatte darüber wird seit längerem geführt. In weiten Teilen der Diskussion, die heutzutage um das Verhältnis von Individualismus und Kommunitarismus streitet, wird die Geschichte der politischen Theorie außer acht gelassen. Aber gerade eine Besinnung auf die geschichtliche Dimension des politischen Denkens erscheint mir heute besonders notwendig. Die Folgen der Revolutionen von 1989 haben das Nichtfunktionieren der "unsichtbaren Hand" des Marktes bewiesen, nachdem 1989 schon die Fehlleistungen der "sichtbaren Faust" des Plans klargelegt hatte. Die konservative Vorstellung, man könne irgendwie den Weg zurück zu einer organischen Gemeinschaft finden, mündet, wie wir wissen, nur in einen neuen Atavismus.
Der Bruch von 1789 hatte die, wie Kant sagt, "Bedingungen der Möglichkeit" für moderne, demokratische Politik dadurch geschaffen, daß er eine Spannung zwischen zwei Willensformen begründete, von denen jede über eine gleichberechtigte Legitimität verfügt. Das Verlangen einer Gemeinschaft, das sich im "volonté générale" ausdrückt, wird nur verwirklicht werden, so meinten die radikalen Revolutionäre, wenn dieser "volonté générale" alles aufhebt, was der vollen Verwirklichung der Rechte des Individuums widerstrebt. Das heißt dann - in der Sprache des Willens (der, wie Hannah Arendt zeigte, immer ein Wille sein muß, um "Wille" zu bleiben: es ist der "volonté générale", der die Menschenrechte verwirklichen wird. So heißt es auch: "...die Internationale - erkämpft das Menschenrecht", wobei vielleicht der Singular nicht ganz ohne Bedeutung ist. So entstand eine Konkurrenz, bzw. ein Kampf der beiden Willen. Nach 1989 wissen wir jedoch: Demokratie ist nur dann möglich, wenn diese beiden Willen aufeinander bezogen bleiben. Die Aufgabe einer demokratischen Politik bestünde dann nicht in der Aufhebung dieses Gegensatzes, sondern in seiner Aufbewahrung. Demokratie entsteht nicht wie Athene, die in voller Rüstung dem Kopf des Zeus entstieg - quasi in einer Art unbefleckten Empfängnis. Die Fähigkeit, die Rechte eines Individuums und die einer Gemeinschaft anzuerkennen und aufzubewahren ist jedoch keine dem modernen Individuum angeborene Fähigkeit. Man ist eher geneigt, die Spannung zwischen den zwei Willen als einen zu überwindenden logischen Widerspruch zu deuten. Das aber führt zu einer Anti-Politik, die lediglich das liberale Axiom der "unsichtbaren Hand" umkehrt. Um diese beiden Logiken besser zu verstehen, ist es hilfreich, auf Marxens philosophischen Beitrag zur Anti-Politik näher einzugehen.

II. DIE UNABSICHTLICHE BEGRÜNDUNG DER ANTI-POLITIK BEI MARX

Die folgenreichste Ausarbeitung einer Politik des Willens findet sich in Hegels "Grundlinien der Philosophie des Rechts". Es ist bekannt, daß Marx Hegel's Idealismus kritisierte. Für unseren Zusammenhang wichtiger aber ist Marxens philosophischer Versuch, den berühmten Aphorismus aus Hegels Vorrede umzudeuten. Wo Hegel behauptet, "Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig", besteht Marx schon in einer Fußnote zu seiner Dissertation darauf, "daß das Philosophisch-Werden der Welt zugleich ein Weltlich-Werden der Philosophie" werden muß.6 Dabei ging es ihm weder um einen volontaristischen Akt, noch um die Selbstaufgabe der Philosophie zugunsten materieller Notwendigkeiten. Marx forderte dabei zweierlei: innerhalb ihrer eigenen Logik sollte die Philosophie die Notwendigkeit ihres Weltlich-Werdens darlegen; zugleich sollte die Welt erst dann eigentlich Welt sein, wenn sie philosophisch geworden ist. Diese doppelte Forderung arbeitet Marx konkreter in der Kritik der sogenannten "liberalen" und "theoretischen" Parteien aus, die, je auf ihre Weise, eine einseitige Politik des Willens betrieben. Das Ziel Marxens war also von Anfang an die Vereinigung dessen, was Hegel scheinbar getrennt hatte: die "abstrakten" Rechte und die Moralität des Individuums einerseits und die sittliche Gemeinschaft andererseits. Marx neigt eher dazu, den Hegelschen Begriff der "bürgerlichen Gesellschaft" aufheben, als daß er versucht, die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft, die einer demokratischen Politik inhärent und die im Ansatz schon in Hegels Begriff enthalten ist, auszuarbeiten. Die Frage ist: was bewegte Marx zu diesem Schritt?
Man muß Marxens Projekt von der später in seinem Namen vertretenen Politik trennen. Marx verstand sein philosophisches Ziel immer auch als politische Verwirklichung der Ideen der Französichen Revolution. 1789 stellte für ihn nur den ersten Schritt eines Prozesses dar, der 1793 radikalisiert, und dann durch den Thermidor abgebrochen wurde. Marx wollte das Selbst-Mißverständnis der "bürgerlichen" liberalen Revolutionäre überwinden. Obwohl er nie die in seiner Jugend beabsichtigte Analyse der radikalen Jahre der Französichen Revolution durchgeführt hat, sind die Umrisse seiner Deutung bekannt. Es ging ihm um eine "verdoppelte Revolution", die in einem zweiten Schritt die materielle Gleichheit verwirklichen würde, die in der ersten Phase nur formell vollzogen wurde. Man kennt auch die vernichtende Kritik, die Marx zur Menschenrechtserklärung abgegeben hat. Aber diese Kritik der liberalen Rechte, die Marx in "Zur Judenfrage" (1843) ausführt, verkennt die politische Dimension dieser Rechte, indem er sie lediglich auf ihre ökonomischen Grundlagen reduziert. Wie Claude Lefort gezeigt hat,7 übersieht Marx, daß mit dem Ende des Absolutismus und des Ancien Régime das Individuum befreit und eine demokratische Politik möglich geworden ist. Von seinem philosophischen Ansatz her konnte Marx die radikalen Möglichkeiten der neuen Freiheiten nicht sehen - Freiheiten, die selbstverständlich auch das Streben nach individueller und materieller Lebensverbesserung einschließen. 8 Sein ökonomischer Reduktionismus läßt dem Politischen keinen Platz. Die Konsequenz daraus findet sich ansatzweise schon bei Marx selbst und tritt ganz offen bei seinen Nachfolgern zutage: daß die bloß "formale" oder gar "bürgerliche" Demokratie nur eine ideologische Tarnung der kapitalistischen Entfremdung bzw. Ausbeutung repräsentiert. Daran kann man erneut merken, daß die Wurzeln von Marxens philosophischer Entwicklung in der politischen Erfahrung und den Resultaten der Französischen Revolution liegen. In diesem Sinne bleibt Marx auch einer der einsichtsreichsten Kommentatoren dieser Revolution gerade weil er - wie die Revolutionäre selber! - die "Ereignisse" als Resultate einer Politik des Willens deutet.
In der im gleichen Jahr (1843) verfassten Schrift, "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung" wiederholt Marx seine Kritik an den zwei "Parteien", die er diesmal "theoretisch" und "praktisch" nennt. Wiederum besteht er darauf, daß die Philosophie nur dann verwirklicht werden könne, wenn sie zugleich aufgehoben werde; und daß die Philosophie nur dann aufgehoben werden könne, wenn sie verwirklicht sei. "Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist.... Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen". 9 Marxens rhetorische Brillanz ist bekannt, ebenso seine Schlußfolgerung. Er "entdeckt" das Proletariat als die "Lösung der Rätsel der Geschichte", das Nichts, das Alles sein könne, die Klasse, die sich nur durch die Emanzipation der ganzen Gesellschaft emanzipieren könne. Das Problem dabei ist jedoch, daß das Proletariat nur "an sich" revolutionär ist, ferner, wie Marx es damals formulierte, daß es ein "künstliches" Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung darstellt, dessen Selbst-Verwirklichung vom "Blitz des Gedankens" - d.h., von dem, was man später "Klassenbewußtsein" nennen wird - abhängt. Marxens nachfolgende Werke stellen seinen Versuch dar, einerseits die "Künstlichkeit" der Entstehung des Proletariats, also das, was für ihn im Unterschied zu den Armen, die es immer gegeben hat, dessen historisch neue, spezifisch moderne Qualität ausmacht, durch eine ökonomische Notwendigkeit zu ersetzen und andererseits den "Blitz des Gedankens" nicht dem Zufall zu überlassen, sondern durch eine Politik des bewußten Willens zu ersetzen, letztendlich also durch die politische Intervention des Kommunisten, der sich von seiner Kenntnis der eisernen Gesetze der Geschichte leiten läßt.
Die Ausarbeitung von Marxens Theorie braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Nur eine Bemerkung wollen wir noch hinzufügen. Der anti-kapitalistische Revolutionär nannte sein Meisterwerk nicht "Der Sozialismus" sondern "Das Kapital". Marx war kein Utopist. Der politische Leser des "Kommunistischen Manifestes" hat sich ja wahrscheinlich auch gefragt, warum Marx den Kapitalismus so preist? Die kapitalistische Entwicklung war ja für Marx die Voraussetzung der "wahren" Revolution, die die immanenten Gegensätze des ökonomischen Individualismus überwinden würde. Daraus sollte ein "Gattungswesen" entstehen, sowie eine Wissenschaft der Natur, die gleichzeitig eine Wissenschaft vom Menschen sein sollte; am Ende dieser Entwicklung werde die Entfremdung, die aus der privaten Akkumulation des Kapitals entsteht, aufgehoben sein. Die kommunistische Revolution würde dann die Gleichheit und Brüderlichkeit, die die Franzosen auf ihre Fahnen geschrieben hatten, endültig verwirklichen. Statt bloß eine formale Demokratie, würde diese Revolution die "wahre" Demokratie herstellen, die der Entfremdung und der Ausbeutung des Menschen in der bürgerlichen Welt ein Ende setzen würde. Das heißt, Marx betrieb stets eine immanente Kritik. Die Ironie aber besteht darin, daß die marxistische Revolution sich auf die gleiche Ersetzung des Politischen durch das Ökonomische gründet, die auch der bürgerlichen Politik zugrunde liegt. Ahnlich wie Adam Smith und andere sieht sich Marx mit einem Gegensatz zwischen zwei Willen konfrontiert; statt aber, wie der bürgerliche Theoretiker, der "unsichtbaren Hand" des Markts zu vertrauen, versuchte Marxens immanente Kritik den Gegensatz in einen rationalen ökonomischen Plan aufzulösen. Hier kann man erneut deutlich sehen, wie eine Politik des Willens die Möglichkeit einer demokratischen Politik zunichte macht.

III. DIE KRITIK DES TOTALITARISMUS ALS WIEDERENTDECKUNG EINER RADIKALEN DEMOKRATISCHEN POLITIK

Marx ist für den Totalitarismus nicht verantwortlich. 10 Die totalitären Idelologien - mit ihren reaktiven Charakteristiken - sind nur gegenüber den entsichernden Wirkungen der demokratischen Revolutionen denkbar. Sie gehören damit zur Geschichte der Demokratie. Diesen Punkt kann man nicht genügend hervorheben. Gerade diese moderne Wurzel des Totalitarismus unterscheidet ihn von den Arten der Diktatur oder der Tyrannei, die schon Platon und Aristoteles beschrieben haben. Die Griechen hielten die Tyrannei für eine Gegenbewegung, die entsteht, wenn die Demokratie in Richtung Anarchie verfällt, während der moderne Totalitarismus vorgibt, er sei die Verwirklichung der Demokratie als eines einheitlichen und einen Volkswillens! Die totalitäre Ideologie (ob von der linken oder rechten Seite) beruft sich auf die Kritik an der angeblich bloß formalen Demokratie, die lediglich die oligarchische und entfremdete Herrschaft der Bourgeoisie aufrechterhalte. Die verwirklichte Demokratie hingegen versucht, die Revolution, die 1794 vom "Thermidor" nur zeitweilig unterbrochen worden ist, zu verdoppeln und Ende zu führen, oder gegenüber dem liberalen Individualismus die Volksgemeinschaft zur Geltung zu bringen. Diese Mißbildungen des Demokratischen versuchen, die Vergangenheit auszulöschen und die Geschichtlichkeit abzuschließen. Der Totalitarismus wird nur innerhalb der modernen politischen Tradition möglich, denn nur dort wird das Individuum zum politischer Akteur der, durch das Fehlen einer Gemeinschaft der Versuchung erliegt, die unauflösliche Spannung zwischen den beiden Willen durch seine Auflösung in einer Gemeinschaft zu überwinden. In diesem Sinne stellt der Totalitarismus das Wesen der Anti-Politik dar. Wir müssen also seine immanente Logik verfolgen, um eine Kritik auch der nicht-totalitären Formen der Anti-Politik vornehmen zu können. Dies ist auch deshalb notwendig, weil wir nach 1989 in eine sanfte Anti-Politik zu entgleiten drohen.
Das Eigenartige der totalitären Ideologie liegt darin, daß sie ihre Ziele offen proklamiert und monoton wiederholt. Es scheint, als müßten die totalitären Führer sich selbst dazu überreden, daß sie ihr Projekt verwirklicht hätten (und deshalb die Macht behalten dürfen). Dies gilt auch und gerade dann, wenn die totalitären Ideologen wissen, daß sie dieses Ziel nicht erreicht haben und auch nicht erreichen werden. Immer in Bewegung, immer dabei, die Gesellschaft zu formen, behauptet die totalitäre Ideologie zugleich immanenter Ausdruck des wahren Wesens der Gesellschaft zu sein. An der Gestalt des "Militanten" - der, wie Claude Lefort meint, eine neue politische Figur 12 zeigt jedoch die prinzipielle Unvollständigkeit des totalitären Projekts und erklärt, warum der Militante immer wieder gebetmühlenartig sein totalisierendes Projekt beschwört. Der Militante kommt mit den Spannungen und Gegensätzen einer demokratischen Gegenwart nicht zurecht. Er wird, wie Lefort schreibt, zum "bien-pensant" der, auch wenn er die Praxis der Partei nicht richtig findet - oder gar im Gulag sitzt oder in einem Säuberungsprozeß angeklagt ist, - "richtig denkt", um nicht selber denken zu müssen: d.h., um nicht urteilen zu müssen. 13 Ohne diesen Militanten, und die in der Verfassung verankerte "sichtbare Hand" der führenden Rolle der Partei ist die totalitäre Ideologie zum Scheitern verurteilt.
Der Militante verfolgt, wie der Philosoph Marx auch, eine Politik des Willens. 14 Aber der Militante im Marxschen Sinne ist nicht der einzige Totalitäre; noch kann man die Philosophie für die totalitäre Ideologie verantwortlich machen. Hannah Arendts These von der "Banalität des Bösen" gibt uns wichtige Hinweise, um die Bedingungen der Möglichkeit einer totalitären Politik des Willens zu verstehen. Ohne einen öffentlichen Raum, der den Urteilen der Einzelnen Bedeutung beimißt und ohne eine Verantwortlichkeit, die der Urteilende dabei dadurch auf sich nimmt, daß er sein Urteil nicht als Konsequenz eines "richtigen Willens" oder als eine von "richtigen Prinzipien" ansieht, die er nur anwenden müßte, bleibt nur der Wille, die Befehle des Führers oder die der Partei... oder gar diejenigen der Geschichte auszuführen! In diesem Sinne leugnete Eichmann alle Verantwortlichkeit für sein Tun; er konnte nur die "bürokratische" Sprache der Befehle verstehen. Wie kam es dazu? Eine der bekanntesten der Arendtschen Thesen unterstreicht die Bedeutung des demokratischen öffentlichen Raumes. Uns geht es hier jedoch nicht allein um das Fehlen dieses öffentlichen Raumes; Arendt hat auch darauf hingewiesen, daß die totalitäre Mentalität im Sinne einer quasi "natürlichen" Einstellung zur Welt alles historisch Neue auf schon Bekanntes reduziert. Das Neue wird unter die alten Begriffe subsumiert. Ein solches Verhalten ist, so Arendt, ein buchstäblich gedankenloses Verhalten - es ähnelt dem Verhalten, das wir schon bei dem kommunistischen Militanten oder "bien-pensant" kennengelernt haben. Eine Gesellschaft, die dem Urteilen keinen Raum gibt, und die die Verantwortlichkeit durch einen (individuellen oder kollektiven) Willen ersetzt, zerstört die Möglichkeiten einer demokratischen Politik.
Vor diesem Hintergrund bleibt die Analyse des Totalitarismus auch nach 1989 wichtig. Die Bedingungen seines Wiedererstehens sind nicht abgeschafft. Noch immer gibt es materielle Ungleichheiten; und es gibt politische Forderungen, bereits erstrittene Rechte zu verteidigen und neue zu erkämpfen. Dem Hegel-Marxschen Programm, das Vernünftige verwirklichen zu wollen und das Wirkliche vernünftig gestalten zu wollen, fehlen also nicht die Anlässe! Politische Forderungen jedoch, die die Aufhebung von Spannungen beabsichtigen, tendieren dazu, in eine Anti-Politik einzumünden, wenn nicht gar im Totalitären zu enden. Das Projekt des Militanten bleibt daher abzulehnen; aber wir müssen die anti-politische Verführung, die er in seiner Person wie in seiner Praxis verkörpert, verstehen, um uns dem widersetzen zu können. Der Militante begeht keinen "Fehler" im Sinne eines mathematischen Kalküls; seine "Politik" ist aus einem anderen Holz. Und der Demokrat ist auf keinen Fall verpflichtet, die bestehende Ordnung gutzuheißen. Im Gegenteil! Ungleichheiten aller Art können nur politisch, d.h. demokratisch, bekämpft werden.
Man ist heute geneigt, den "real existierenden" Sozialismus für eine Fehlleistung zu halten. Dennoch wird von einigen argumentiert, man dürfe die Suche nach neuen theoretischen Modellen, nach anderen politischen Führern, oder nach einem Dritten Weg nicht aufgeben, denn der Kapitalismus sei ja auch nicht viel besser und man müsse die noch existierenden Gegensätze endgültig überwinden. Aber solche Argumente verkennen die Eigenart des Politischen und der Demokratie; dies hatte die Kritik des Totalitarismus aufgezeigt. Der Totalitarismus kann innerhalb einer Demokratie, oder dort, wo die entsichernden, die überkommene Ordnung unterhöhlenden Effekte der Demokratischen Revolution gewirkt haben, nur entstehen, wenn die Eigenart des Demokratischen mißverstanden wird und ihr eigenes politisches Wesen verleugnet: d.h. wenn sie sich nur als eine institutionelle und ökonomische Struktur versteht. Man darf die Kritik nicht auf das "kapitalistische" Wesen der Demokratie beschränken. Was Marx in einer scheinbar paradoxen Weise im "Kommunistischen Manifest" dem sich selbst revolutionierenden Kapitalismus zuschrieb, beschreibt aus einer politischen Perspektive vielmehr die Entstehung und die Weiterentwicklung der Demokratie als revolutionärer Prozess. Dies ist die Lehre, die man aus der totalitären Erfahrung ziehen sollte. Die Politik der Kritik kann nicht mit einer Kritik der Politik gleichgesetzt werden, wie Marx in seinem Aufsatz "Zur Judenfrage" versuchte, noch kann das Politische das Ökonomische ersetzen.
Wie wird das Politische in der Moderne gedacht, in welchen Begriffen kommt es zum Ausdruck? Könnte man nicht die Geschichte der Entstehung - sowie die der Verführungen - der modernen Demokratie auch aus dem "Kommunistischen Manifest" herausarbeiten, sofern man darin nicht nur die Deutung der ökonomischen Entwicklung und der Überwindung des Kapitalismus sieht? Dieses Projekt ist nicht von nur philologischen Aktualität, wie wir sehen werden.

IV. DIE POLITIK DER URTEILSKRAFT ALS MODERNE BEGRÜNDUNG DER VERANTWORTLICHKEIT UND DER SOLIDARITÄT

Eine Demokratie kann ohne Demokraten nicht leben. Die Bourgeoisie aber hat nie demokratische Bewegungen hervorgebracht, sondern nur langsam und wider Willen zugelassen. Solche demokratischen Bewegungen haben kein Telos; sie begegnen nur einer Nemesis, die immer gegenwärtig ist: die totalitäre Verleugnung der politischen Öffentlichkeit. Hannah Arendt beschreibt (in "Über die Revolution") die wiederkehrende Erscheinung und Selbstorganisation demokratischer Bewegungen als den "verlorenen Schatz" der Revolution. Aber eine solche Beschreibung befriedigt nicht mehr als die des jungen Marx, der hoffte, der "Blitz des Gedankens" würde das Proletariat in ein revolutionäres Subjekt verwandeln. Wie aber entstehen Demokraten? Es wäre sicher eine Übertreibung, den Begriff "totalitär" auf den stagnierenden Liberalismus und Konservativismus, die unser gegenwärtiges politisches Leben bestimmen, anzuwenden; eher greift hier der Begriff Anti-Politik. Wenn wir nach den Revolutionen von 1989 nicht die Irrtümer, die nach 1789 begangen worden sind, wiederholen wollen, dann muß eine Politik der Urteilskraft die Politik des Willens ersetzen. Hannah Arendts unvollendete Vorträge über Kant, ihre Analyse des "Eichmann-Falles" sowie ihr Buch über den Totalitarismus legen nah, daß der Begriff des reflexiven Urteilens zum besseren Verständnis nicht nur der Demokratie, sondern auch ihrer Verführungen beiträgt.
Das demokratische Individuum urteilt, es nimmt die Verantwortung für sein Urteil auf sich. Zwischen dieser Praxis und Kants Kritik der Urteilskraft gibt es eine gewisse Ähnlichkeit. Das reflexive Geschmacksurteil läßt sich nicht von einem vorgegebenen und allgemeinen Begriff her ableiten. Es handelt sich vielmehr um eine subjektive Erfahrung, um den Ausdruck eines Gefühls. Dennoch beansprucht das reflexive Urteil, ebenso wie ein Urteil, das sich auf einen Begriff gründet, Allgemeingültigkeit. Zwei Fragen stellen sich hier: Warum urteilen wir auf diese Weise? Warum sind wir mit unseren individuellen Urteilen nicht zufrieden, sondern wollen, daß auch andere unser Urteil teilen und es als geteiltes Allgemeingültigkeit erlangt? Die Antwort auf die erste Frage besteht darin, daß wir etwas Neuem begegnen, etwas, daß nicht unter schon gegebene Gesetze oder Regeln subsumiert werden kann. Wir wollen den Sinn dieses Besonderen, die neuen Umstände, in denen wir uns befinden, verstehen. Wir denken darüber nach, reflektieren, suchen einen Begriff, der der neuen Erfahrung angemessen ist. Dabei übernehmen wir die Verantwortlichkeit für das, was wir behaupten. Dies führt zur zweiten Antwort, die darin besteht, daß wir nur dann Verantwortlichkeit übernehmen können, wenn wir die Existenz der Anderen voraussetzen. Diese Anderen befinden sich, ähnlich wie wir, in einer neuen Lage. Daß wir sie überzeugen wollen, unserem reflexiven Urteil zuzustimmen, bedeutet gleichzeitig, daß wir sie als unabhängige, von uns verschiedene Individuen anerkennen. Es heißt auch, daß wir die nicht zu verleugnende Pluralität des Sozialen annehmen müssen. Zugleich teilen wir mit ihnen die Einheit, die Gemeinsamkeit, ja die Gemeinschaftlichkeit, gerade weil wir die Allgemeingültigkeit für unser Urteil beanspruchen. Auf diese Weise verbinden unsere Geschmacksurteile zwei Strukturen, welche die Bedingung der Möglichkeit einer Demokratie erst ermöglichen.
Die Neuheit der Lage, die Notwendigkeit, ohne vorgegebene Begriffe zu urteilen, das Erfordernis, eigene Verantwortlichkeit zu übernehmen und die Zustimmung der anderen unabhängigen Mitbürger zu suchen: dies alles trifft auf die post-revolutionäre Welt nach 1989 zu. Die Überstülpung erprobter Institutionen oder juristischer Verfahrensweisen verleugnet den eigentlichen politischen Aspekt des Transformationsprozesses. Solche von außen her übernommenen Institutionen tragen nicht dazu bei, urteilsfähige Bürger zu ermutigen, besonders dann nicht, wenn es darum geht, die Pluralität von verschiedenen Standpunkten zu verteidigen und zu verstehen. Solche Verfahren tragen nicht dazu bei, eine "erweiterte Denkungsart" die auch von der "Stelle des Anderen" her denkt und urteilt zu erzeugen. Aber gerade eine solche kritische Fähigkeit ist die Voraussetzung einer demokratischen Öffentlichkeit, wie Hannah Arendt, zurückgreifend auf Kants Theorie der reflexiven Urteilskraft, dargestellt hat. Bei der eigentlichen politischen Urteilskraft geht es darum, eine Erfahrung an Andere zu übermitteln; Urteilen bedeutet auch, sich und die Anderen in Frage zu stellen - und nicht, wie beim "Militanten", ihnen eine Wahrheit aufzuoktroyieren. In diesem Urteilen bin ich ein Demokrat unter anderen Demokraten. Erst gemeinsam können wir den Wert und die normative Gültigkeit der demokratischen Gemeinschaft sichern. Diese Form des Urteilens wollen wir nun näher bestimmen.
Wann muß ich reflexiv urteilen? Wie kann ich der Versuchung widerstehen, das Neue unter schon vorgegebene Begriffe oder Regeln zu subsumieren? Man findet bei Kant im zweiten Anhang seines Buches Zum ewigen Frieden einen interessanten Vorschlag. 15 Der Titel dieses Anhangs - "Von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transcendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts" - deutet an, daß die Politik der Urteilskraft als Pendant zur Politik des unabhängigen Willens aufgefaßt werden kann. Kant faßt seine Thesen lapidar zusammen: "Alle Maximen, die der Publicität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen) stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen". 16 Was Kant vorschwebte, können wir der Struktur des reflexiven Urteils entnehmen. Das Urteil bezieht sich auf etwas Besonderes, etwas Neues, das sich nicht unter schon vorhandene Begriffe oder Regeln subsumieren läßt. Seine Gültigkeit hängt davon ab, inwieweit die Anderen für dieses Urteil empfänglich sind. Diese Empfänglichkeit aber kann nur durch eine öffentliche Debatte zustande kommen, durch den Vergleich verschiedener Erfahrungen, durch Argumente, gar Kämpfe. Aus einer solchen Erfahrung heraus kann ein gemeinschaftlicher Sinn entstehen, der sich der Pluralität und der Kommunikation verdankt. Solche pluralen Erfahrungen gibt es auch in der Politik: Man begegnet etwas Neuem und es werden Vorschläge debattiert, wie damit umzugehen sei. Es entsteht ein gemeinsamer Sinn mit Bezug auf die Lösung. Würde man an das Neue anders herangehen, wäre man auf der Suche nach einer anti-politischen Lösung. Eine solche Politik könnte keine normative Legitimität für sich in Anspruch nehmen. 17
Die Politik der Urteilskraft könnte jene liberale Form der Demokratie ersetzen, die letztendlich auf der Vorstellung eines Vertrages zwischen zwei unabhängigen Willen gründet. Zugleich läßt sich die heute modisch gewordene philosophische Kritik des "Subjekts" vermeiden, weil die Politik der Urteilskraft explizit die Verantwortlichkeit des Individuums für seine Deutung des Neuen auf sich nimmt. Das Individuum ist verantwortlich für den Versuch, seine Meinung innerhalb der pluralen Öffentlichkeit einzubringen. Ethik (im Gegensatz zur persönlichen Moralität) hängt nicht von meinem Willen oder von den vorgestellten Wirkungen meines Tuns ab. Eine ethische Dimension eröffnet sich, sofern Individuen Verantwortlichkeit in einer Weise auf sich nehmen, die die Existenz einer pluralen Gemeinschaft von Individuen voraussetzt. Politik, der andere Pole von Kants "transcendentalem Begriff des öffentlichen Rechts" ist der fortwährende Versuch, Projekte zusammenzubringen, die, gerade weil sie dem Subsumieren unter althergebrachte Schemata entgleiten, die Öffentlichkeit wachhalten und stets aufs Neue die Fragwürdigkeit dessen, was ist und dessen, was zu tun ist, offen halten. In diesem Sinne kann man in der Sprache des reflexiven Urteiles eine Begrifflichkeit finden, die dem Politischen angemessen ist, und die das Verlangen nach Gerechtigkeit legitimiert, ohne die Ansprüche des Rechts aufzugeben.
Aus der Sichtweise einer Politik der Urteilskraft bedeuten uns die Ereignisse von 1989 nicht den Zusammenbruch rein ökonomischer Systeme, sondern eine politische Revolution. Heute geht es darum, die Resultate dieser Revolution aufzuarbeiten, sich auf die Demokratie, die der "verlorene Schatz" der Revolution war, zu besinnen. Die Frage nach dem Ursprung der Rechte des Individuums, die die Revolutionäre von 1789 nicht beantworten konnten, und die in eine Anti-Politik mündete, deren extreme Form der Totalitarismus war, stellt sich heute erneut. Die Politik der Urteilskraft ermöglicht dagegen eine Politik der Solidarität. Sie geht der verführerischen Frage aus dem Wege, ob die Autonomie des Indiviuums in einem individuellen oder kollektiven Willen besteht. Meine individuellen Rechte behaupte ich in der Form eines Urteils, das zugleich eine Forderung, eine Debatte und auch ein Dialog mit anderen ist, deren Gleichheit mit mir sowie deren Autonomie und deren Differenz von mir ich immer voraussetze. Ich kann weder meine Rechte allein behaupten noch kann ich ohne diese vorausgesetzte Solidarität überhaupt urteilen. Meine Rechte hängen von der Zustimmung der Anderen ab, deren Autonomie ich voraussetzen muß. Meine Rechte hängen also von unseren Rechten ab - auch von unserem Recht, nicht zuzustimmen, sowie von der Notwendigkeit, darüber zu debattieren, warum wir zustimmen sollen. Auf diese Weise stehen politische Tätigkeit und kritische Reflexion komplementär zueinander; Autonomie wird nur möglich durch die Solidarität, die implizit in der individuellen Verantwortlichkeit besteht.

V. AKTUELLE FRAGEN ZUR PRAXIS DER DEMOKRATIETHEORIE

Bis jetzt habe ich die provozierendste der Arendt'schen Begriffsprägungen noch gar nicht erwähnt. Es geht um "das Recht, Rechte zu haben". 18 Ich hätte diesen Begriff schon erwähnen können, als ich die Französische Revolution als Eröffnung der politischen Moderne bezeichnete. Dabei hatte ich hervorgehoben, daß es den Revolutionären um die Befreiung des Individuums aus der feudalen, bzw. organischen Ordung ging. Ich habe die Rechtsfrage nicht ausgeführt, weil der Arendt-Kenner an dieser Stelle eine Deutung von Arendt's bekannten Einwänden gegen die Franzosen erwartet hätte. Arendt hatte ja - wie wir wissen - die Franzosen kritisiert, weil sie die Begründung der Freiheit durch die "soziale Frage" ersetzten, und deswegen nicht in der Lage waren, eine neue Politik zu begründen. Statt dessen habe ich die Frage der Menschenrechte erst erwähnt, als ich Marxens fehlgeschagene Kritik aufgegriffen habe. Dabei stellte sich heraus, daß das Recht, unseren eigenen Interessen nachzugehen auch eine Errungenschaft der Revolution war! Wenn diese Behauptung stimmt, ist Arendt's Kritik der Französischen Revolution nicht nur historisch fragwürdig; ihre aktuelle Bedeutung könnte sogar dahingehend mißverstanden werden, daß Arendt eine Befürworterin einer "klassischen" bzw. vor-modernen Vorstellung des Politischen wäre. Deshalb war es mir wichtig, durch die Ausarbeitung der Politik der Urteilskraft zu zeigen, daß Arendt's Denken stets modern geblieben ist.
Statt bei einer Arendt-Philologie zu verweilen, möchte ich nun noch eine andere der Paradoxien erwähnen, die aus dem "Recht, Rechte zu haben" entsteht. Es geht um das Recht auf Irrtum, das sich sowohl auf die interessengeleitete Ausübung meiner Rechte bezieht, wie auch auf die Bedingungen der Möglichkeit der für die Demokratie und für das Urteilen konstitutiven Debatte, aus der eine kritische Öffentlichkeit entsteht. Derjenige, der philosophiert wie derjenige, der politische Urteile auf sich nimmt, akzeptiert nicht nur die Verantwortlichkeit für seine Behauptungen; er unterstellt sich zugleich der Möglichkeit des Irrtums. Dieses Recht auf Irrtum unterscheidet den Menschen vom Tier und befreit ihn von den Zwängen der Natur, bzw. einer durchrationalisierten, verdinglichten Welt. Gerade weil ich mich irren kann, muß ich kritisch urteilen, bzw. reflexiv urteilen. Diese Bemerkung versteht sich von selber, nachdem wir den Totalitarismus von innen her analysiert haben. Was bedeutet nun dieses paradox-klingende Recht auf Irrtum für die Politik? Könnte man das radikale Wesen der Demokratie so verstehen, daß es das Zusammenbestehen von einem Recht auf sein Interesse und einem Recht auf Irrtum ermöglicht? Der Gegensatz der zwei Willen wird dabei nicht durch eine Anti-Politik aufgehoben, sondern er artikuliert sich nun als politischer Prozess, der ( um mit Marx zu reden) das Weltlich-Werden der Politik der Urteilskraft ist.
Versuchen wir, diese Vorstellung auf die gegenwärtige Politik anzuwenden. Drei unterschiedliche Phänomene müssen dabei zusammengedacht werden. (1) Wir können die Imperative des Weltmarktes nicht vermeiden, wollen wir nicht allen möglichen Irrationalitäten Tür und Tor öffnen. (2) Die daraus entstehenden Ungleichheiten, die wir nicht mehr in Begriffen von "Klassen" auffassen können, erscheinen in der sogenannten post-industriellen Arbeitsteilung fast als Wiedererstehung ständischer Verhältnisse. (3) Die Solidarität einer "Zwei-Drittel Gesellschaft" mit dem ausgeschlossenen "Drittel" (sowie die wohl eher metaphorische Solidarität der reichen mit den armen Länder) muß verhindern, daß ein "Drittel" faktisch vom politischen Leben einer Demokratie ausgeschlossen wird. Einige behaupten, eine Vermittlung dieser drei Problembereiche sei durch die Herstellung einer "zivilen Gesellschaft" erreichbar. Man glaubt, der Zweckrationalität des Staates sowie der des Marktes dadurch entgehen zu können, daß man die Gesellschaft autonom macht und sie sich selbst regieren läßt. Diese logische Vermittlung ähnelt der "Lösung des Rätsels der Geschichte", die Marx im Proletariat zu finden glaubte. Die Vorstellung einer gesellschaftlichen "Autonomie", sowie deren Begründung geht stillschweigend von einer Politik des Willens aus und würde zu einer neuen Variante der Anti-Politik führen. 19 Eine Politik der Urteilskraft würde dagegen anders ansetzen. Sie würde zunächst zwei verschiedene Momente unterscheiden. Das erste könnte man als die "Politik der Kritik" bezeichnen. Deren Arbeit bestünde darin, stets den Verführungen der Anti-Politik, die immanent in der modernen demokratischen Politik angelegt sind, zu widerstehen. Gerade weil diese Politik weiß, daß die Spannung der zwei Willen, die die Demokratie begründet, nie aufzuheben ist und ihre Arbeit darin besteht, die Möglichkeit der Spannung offen zu halten, wäre eine Politik der Kritik zugleich auch die Verteidigung und Bewahrung dieser beiden paradoxen Rechte. Konkreter: die Politik der Kritik stellt die bestehende Ordnung immer wieder in Frage, beklagt Ungleichheit, sowie den Verlust derjenigen Bedingungen, die gegeben sein müssen, um politisch an den gesellschaftlichen Entwicklungen und deren Selbstbestimmung teilnehmen zu können.
Der Versuch, das Politische immer wieder neu zu definieren - wie ihn auch die neue Linke unternimmt - bildet das Komplement zu einer Politik der Kritik. 20 Dieses zweite Verfahren ermöglicht die Beschreibung der Interaktion der zwei zu vermittelnden Ebenen. Der Weltmarkt versucht, kantisch gesprochen, alle Besonderheiten unter seiner Logik zu "subsumieren". Dies gelingt dem Markt jedoch nicht; es gibt Widerstand, zunächst seitens derjenigen, die von der Zwei-Drittel Gesellschaft privilegiert werden, und die ihre Interessen, auf die sie in der modernen Welt ein Recht haben, verteidigen. Solche Widerstände lassen sich jedoch aus der Sicht einer Politik der Urteilskraft als Partikularinteressen verstehen, die auch den berechtigten Anspruch erheben, in einer pluralen Öffentlichkeit Gehör zu finden. Sonst wären solche Interessen auch nicht gerechtfertigt. Das zweite Problem bezieht sich auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen den erfolgreichen Zwei-Dritteln und dem anderen, ausgeschlossenen Drittel. Die übliche Lösung gründet auf eine Politik des Willens - konkreter gesagt, sie versucht, eine Logik der Umverteilung durch den Wohlfahrtsstaat auszuarbeiten, damit sich alle zufrieden geben können. Eine solche Politik wird jedoch nolens volens zur Anti-Politik; sie ist nicht in der Lage, die gesellschaftliche Arbeitsteilung und, damit verknüpft, die rechtliche Lage des Individuums in Frage zu stellen. Paradoxerweise liegt die Wurzel dieses Fehlers darin, daß man sich dabei nicht auf den "zweiten Willen", der 1789 entstand ist, stützen kann. Dieser zweite Wille war derjenige der Nation bzw. der Gemeinschaft; seine allgemeine politische Form ist diejenige der Bürger. Das ausgeschlossene "Drittel" läßt sich nur als "Mit-Bürger" wieder in eine Gesellschaft integrieren, sofern diese sich nicht nur als eine für Märkte produzierende versteht und sofern sie nicht alle Fragen der Umverteilung (bzw. abstrakten Nivellierung!) an den Staat delegiert. Konkret müßte man hier z.B. die Frage des "Bürgerlohnes" debattieren. Dabei geht es jedoch nicht primär um die Frage der Lebenserhaltung einzelner physicher Menschen. Vielmehr stellen sich dabei die Fragen des Politischen: was sind die Bedingungen der politischen Teilnahme aller in der Gesellschaft verfassten Individuen, d.h. der Mitbürger? Und zudem: was bedeutet Teilnahme, welche Formen der Teilnahme wollen wir institutieren?
Die zwei Momente einer Politik der Urteilskraft laden zur demokratischen Debatte ein. Wie stellt man partikulare Umstände so dar, daß sie sich nicht unter vorgegene Gesetze oder Regeln (des Weltmarktes, des administrativen Staates) subsumieren lassen? Welche Institutionen ermöglichen das Bestehen einer Öffentlichkeit, die die Empfänglichkeit des Bürgers in einer nicht zu Ende zu bringenden und nie von möglichen Irrtümer freien Debatten herstellen? Konkreter: was sind die Grenzen einer Logik des Marktes, oder diejenige einer Zweckrationalität im Bereich der interpersonellen Verhältnisse? Ist die Weber'sche Vorstellung der Moderne als rationale Entwicklung funktionaler Ausdifferenzierung heute noch die zutreffende Analyse unserer politischen Gesellschaften? Oder ist die Durkheim'sche Beschreibung einer "Anomie", die die "organische Solidarität" der Moderne ersetzt (und tendenziell in Richtung einer vor-modernen, "segmentarischen" Solidarität treibt), eine genauere Beschreibung? Die Frage ist nicht rein akademisch; eine Durkheim'sche Analyse würde das heute zu beobachtende Wiederauftauchen verschiedener Atavismen und Fundamentalismen als neueste Variante einer Anti- Politik deuten. Dann nämlich wäre es das Ziel einer demokratischen Politik, eine neue politische Solidiarität zu erfinden, die nicht einfach die simple Wiederaufnahme von Durkheims republikanischer Politik wäre. Das würde auch erklären, warum der Vorstellung einer Politik der Urteilskraft in der neuen post-1989 Welt eine herausragende Bedeutung zukommen könnte.
Obwohl ich in diesen letzten Absätzen ganz von der Analyse aktueller Fragen in Anspruch genommen wurde, hat es mich doch nolens volens immer wieder zur Philosophie hingedrängt. Soll ich aus dieser Not eine Tugend machen? Zumindest bin ich zu meinen ersten Behauptungen zurückkommen. Die Wiederentdeckung - oder, bei vielen, die Entdeckung - des Arendt'schen Begriffs des Politischen weist darauf hin, daß die politischen Probleme, die sich unseren modernen Gesellschaften heute stellen, ohne eine Rückkehr zum Philosophischen keine Antworten finden können. Die Voraussetzung aber des Philosophierens besteht darin, daß wir als Individuen auch die Verantwortung für das Recht auf Irrtum auf uns nehmen. Diese Voraussetzung verkörpert geradezu die Bedingung der Möglichkeit einer demokratischen Politik. Damit sollten wir endlich anfangen!
Dick Howard
den 3 Mai 1995
Fußnoten:

  • 1 Dieser Aufsatz ist die ausgearbeitete Fassung eines Vortrages, den ich zuerst auf einer von der Universität Dresden veranstalteten Tagung gehalten habe. Mitveranstalter dieser Tagung war das Pariser „College International de Philosophie“. Die frühere Fassung dieses Vortrages wird 1996 in einem von Thomas Rentsch und Christoph Demerling herausgegebenen Band „Recht und Gerechtigkeit“ im Akademie Verlag erscheinen. Die zweite Fassung des Vortrages hielt ich auf der ersten Tagung des Vereins „Hannah Arendt Preis für politisches Denken e.V.“ im November 1994 in Bremen. Die vorliegende Fassung hätte ich ohne die Anregungen von Antonia Grunenberg nie zustande bringen können. Dank schulde ich auch Boris Blaha, der mir bei der abschließenden Überarbeitung behilflich war. Zurück

  • 2 Vgl. mein Buch From Marx to Kant (London: Macmillan and New York: St Martins Press, 2e edition, 1993); deutsche Übersetzung bei Edition Suhrkamp, voraussichtlich 1996; Vgl. auch die, diese Thematik berührenden Kapitel meines Buches: Die Politisierung der Politik, Suhrkamp 1995 Zurück

  • 3 Ich darf hier hinzufügen, daß mein Verständnis des Totalitarismus auch von den Französischen Debatten, an denen ich teilgenommen habe, beeinflußt worden ist. Die Kritik des Totalitarismus, die in Frankreich stattfand, ging von der Frage aus, ob und wie eine "Politik der Menschenrechte" zustandezubringen wäre, und wie man heutzutage die Demokratie als "linke" Politik aufarbeiten könnte. Diese Debatte, die man mit der sogenannten "zweiten Linken" ("deuxieme gauche") um Michel Rocard damals identifizierte, hatte seine theoretischen Wurzeln bereits in der Kritik des Totalitarismus, die in den 40er und 50er Jahren in der Zeitschrift "Socialisme ou Barbarie" ausgearbeitet war, und die mit den Namen von Cornelius Castoriadis und Claude Lefort verbunden ist. Mit Bezug auf dieser Kritik, darf ich auf die Darstellungen in meinem Buch: "The Marxian Legacy" (2te Ausgabe, London: Macmillan Press, 1988) hinweisen. Zurück

  • 4 Ich muß hier unterstreichen, daß ich diesen Begriff in einem ganz präzisen und auf den Begriff zu bringenden Kontext benutze, wie man bald sehen wird. Auf jeden Fall bezeichne ich mit diesem Begriff nicht das, was sich in dem besonderen Fall des ehemaligen Sowjetischen-Imperiums als eine "Anti-Politik" entwickelt hat. Was z.B. G. Konrad in seinem Buch Antipolitik beschreibt, geht eher in der Richtung, die ich hier als demokratische Politik aufarbeiten will. Zurück

  • 5 In beiden Fällen verabsolutisiert man den einen oder den anderen Pol der Spannung, um daraus einen Gegensatz zu machen: bei dem Markt-Liberalismus z.B. verabsolutiert man das Individuum; bei dem Plan-Sozialismus wird die gesellschaftliche Totalität verabsolutiert. Andere Varianten sind möglich, z.B. in den letzten Jahrzehnten hat man versucht, politische Probleme zu verrechtlichen, bzw. als technische oder administrative Probleme zu maßregeln. Ich gebe freilich zu, daß sich die Geschichte, die ich in diesem Absatz umgerissen habe, nicht auf einen einzigen Nenner reduzieren läßt. Ich habe jedoch diese Skizze in meiner Darstellung eingebracht, um zunächst zu unterstellen, daß die Gestalt, die nach 1789 entstanden ist, die Bedingung der Möglichkeit der modernen Politik zugrundelegte. Zugleich aber wollte ich das darin eingebaute Paradox darstellen: alle Versuche, diese Spannung der zwei Willen aufzuheben, bzw. zu nivellieren sind in dem Sinne anti-politisch, daß sie die Bedingungen der eigenen Möglichkeit verneinen, und gerade dadurch die Moderne in Frage stellen. Zurück

  • 6 Das Zitat von Hegel findet sich in den "Grundlinien der Philosophie des Rechts" (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1970), Band 7, S. 24. Das Zitat von Marx findet sich in Karl Marx, "Frühe Schriften", Hgg von Hans-Joachim Lieber und Peter Furth (Stuttgart: Cotta Verlag, 1962), Band 1, S. 71. Zurück

  • 7 Vgl. "Droits de l'homme et politique" in L'invention démocratique (Paris: Fayard, 1981), S. 45ff. Deutsche Übersetzung als "Menschenrechte und Politik" in Ulrich Rödel, Hg, Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, (Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag, 1990), S. 239ff. Zurück

  • 8 Diesem Argument werden wir unten wieder begegnen. Was bereits Benjamin Constant und die politischen Liberalen verstanden hatten: die moderne Politik kann nicht zu den "klassischen" oder zu "kommunitären" Tugenden zurückkehren: die Rechte des Individuums schließen auch das Recht ein, meinen individuellen Interessen nachzugehen. Die moderne Herausforderung besteht darin, daß die beiden Pole ihren politischen Platz finden müssen. Marxens Begriff des Proletariats ist demgegenüber unadäquat, weil er die Existenz von kollektiven Interessen, die die Interessen des Individuums aufheben, voraussetzt. Der Versuch der neuen Linken, "das Private als das Politische" zu deuten, läuft Gefahr, den gleichen Irrtum zu begehen. In diesem Fall würden man nicht nur die Privatrechte, sowie das persönliche Selbstinteresse auf dem Altar des sogenannten Politischen opfern - was nur auf eine andere Variante des Anti-Politischen hinausliefe! Zurück

  • 9 "Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung," in Libert und Furth. Hg., op. cit., S. 498-499. Zurück

  • 10 Ich habe gleich zu Anfang angedeutet, daß dieser Begriff auch als "Waffe" im kalten Krieg benutzt worden ist. Außer der gewissermaßen "kanonischen" politischen Deutung des Begriffs in dem 1956 erschienen Buch von Carl J. Friedrich und Zbigniew K. Brzezinski, "Totalitarian Dictatorship & Autocracy" (New York: Praeger) findet sich die bekannteste theoretische Deutung des Begriffs in dem Buch von J. L. Talmon, "The Origins of Totalitarian Democracy", das 1960 erschien ist (New York: Praeger). Typisch bei diesen Deutungen ist die Einseitigkeit der Analyse, sowie die Voraussetzung, es gäbe eindeutig gute und böse Menschen, Systeme und Politiken. Es gibt, wenn man so will, den guten und den bösen Willen - wie man es auch von den damaligen „Westerns“ her kennt (i.e. Kinofilme).
    Die hier vorgschlagene Deutung des Totalitarismus entstammt einer anderen Erfahrung, und zwar aus dem Versuch, eine "neue linke" Politik zu entwickeln. Deswegen scheint mir die französiche Kritik des Totalitarismus wichtig: angefangen bei Castoriadis und Lefort, sowie bei der Zeitschrift "Socialisme ou Barbarie", geht diese Kritik von Marx aus, um dann konsequenterweise zu einer Kritik an Marx zu gelangen, ohne dabei jedoch die Vorstellung einer radikalen Politik aufgeben zu müssen. Ansätze zu einer ähnlichen Kritik findet man bei der frühen Frankfurter Schule - bis zu Horkheimer's berühmter Mahnung, wer vom Kapitalismus nicht reden will, der soll auch über den Faschismus schweigen. Warum die Frankfurter diese Kritik nicht weiter führten, ist eine Frage, der ich hier nicht weiter nachgehen kann. Für weitergehende Ausführungen zu diesem Fragenkomplex, darf ich auf die zweite, erweiterte Ausgabe meines Buches, "The Marxian Legacy" op. cit. hinweisen. Zurück

  • 11 Diese Behauptung findet sich in dem Essay von Lefort, "Esquisse d'une genèse de l'idéologie dans les sociétés modernes", zuerst erschienen in Textures, 71/ 2-3 (1971), S. 36. Eine umgearbeitete Fassung findet sich in Les formes de l'histoire (Paris: Gallimard, 1978). Dieser Begriff des Militanten richtet sich gewissermaßen auch gegen eine "existentialistische" Politik wie diejenige, die Sartre verkörpern wollte. Man weiß, daß Lefort auch der Freund und Herausgeber von Maurice Merleau-Ponty war, und das seine Auseinandersetzung mit Sartres Bolschewismus in Les Temps Modernes zu dem Austritt Merleau-Ponty's aus der Redaktion dieser Zeitschrift führt. Vgl. die Darstellungen in meinem Buch The Marxian Legacy. Zurück

  • 12 Mit Bezug auf den Begriff des Militanten als ein "Organ" - der von Solschenizyn stammt, vgl. die Ausführungen Leforts zu dem "Archipel Gulag" von Solschenizyn in "Un homme en trop" (Paris: Editions du Seuil, 1976). Zurück

  • 13 Vgl. Lefort, "Un Homme en trop", S. 162, sowie die ganze Analyse dieses Kapitels, das mit einem Wort von Solschenizyn bezeichnet ist: "Une idéologie de granit". Zurück

  • 14 Die Gestalten des Militanten und des "bien-pensant," sowie die unausgesprochene Komplizität der Bevölkerung in ihren totalitären Zielen, reduziert sich nicht auf das vereinfachte Bild des Krämers, der "in der Wahrheit" nicht leben will, wie sie von Vaclav Havel dargestellt ist. Der Existentialismus ist doch ein Moralismus des Willens, er ist keine Politik. Das ist auch eine Schlußfolgerung, die man aus der Erfahrung der Neuen Linke ziehen könnte-- die uns aber zu weit weg von unserem Thema bringen würde. Zurück

  • 15 Ich zitiere nach der Akademie Ausgabe von "Kants Werke", Band VIII, S. 381ff. Zurück

  • 16 a.a.O., S.386 Zurück

  • 17 Diese beiden Fragen - die des Besonderen, das nur durch ein reflexives Urteil aufgenomen werden kann; und die der Empfänglichkeit des Publikums für solche reflexiven Urteile - können eine Methodologie begründen, die auf die Politik anwendbar ist. Vgl insbesondere die zweite Ausgabe meines Buches "From Marx to Kant" (1993).
    Um diese Vorstellung hier nur kurz anzudeuten: der Unterschied zwischen der Französischen und der Amerikanischen Revolution läßt sich auch auf die Differenz der hier und von Hannah Arendt vertretenen Theorie beziehen. Die Erfolge der Amerikaner werden verständlicher, wenn man bedenkt, daß die Amerikaner einerseits politische Parteien begründet haben und sogar zum ersten Mal in der Weltgeschichte die Macht friedlich von einer Partei an die andere übergaben; andererseits haben sie schon vor zweihundert Jahren ein Verfassungsgericht eingesetzt, das im Namen des Allgemeinen urteilt. Dadurch konnten sie die gegensätzliche Politik des Willens, an dem die Franzosen, d.h. die Revolutionäre nach 1789 zugrunde gingen, durch eine Politik der Urteilskraft ersetzen. Vgl. zu dieser Geschichte, meine Analyse in "Die Grundlegung der amerikanischen Demokratie", deutsche Fassung 1995 bei Suhrkamp. Zurück

  • 18 Arendt entwickelt ihre Thesen zuerst im neunten Kapitel ihres Totalitarismus-Buches: "The Decline of the Nation-State and the End of the Rights of Man". Die Darstellung der Lage der Staatenlosen in der Zwischenkriegszeit, sowie die Analyse der Rechte der Minoritäten in den neu entstandenen Staaten ist - leider - immer noch höchst aktuell. Zurück

  • 19 Hier stellt sich die Frage, wie das Scheitern der (im Konrad'schen Sinne) anti-politischen Bewegungen nach 1989, bzw. der Versuche, eine Zivil-Gesellschaft gegen den totalitären Staat aufzubauen, zu verstehen ist. Leider gehört der Versuch, mehr als eine begriffstheoretische Antwort anzubieten, nicht hierher. Vgl. aber meine Bemerkung in der Fußnote 14, oben. Zurück

  • 20 Ich erlaube mir anzumerken, daß sich diese beiden Begriffe - Defining The Political und The Politics of Critique - auf die Titel von zwei meiner Essays beziehen, die 1989 sowie 1990 bei Macmillan in London erschienen sind. Einige der dort vorgetragenen Argumente wurden in "Die Politisierung der Politik" wieder aufgenommen. Zurück



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